Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Tony Cragg erzählt von Molekülen

Der britische Bildhauer gab in Mönchengla­dbach Antworten auf die Frage: Warum Skulptur?

- VON BERTRAM MÜLLER

Warum Skulptur? Beim gemeinsame­n Autowasche­n stellte der Vater einst dem kleinen Tony Cragg die lapidare Frage, als der ihm eröffnet hatte, dass er Bildhauer werden wolle. Die Antwort kam nicht gut an. Doch Tony hielt an seinem Entschluss fest und gilt heute als einer der bedeutends­ten Bildhauer der Welt. Mit britischem, nicht immer charmantem Humor unterhielt, belehrte und begeistert­e er jetzt ein Publikum, das der Initiativk­reis Mönchengla­dbach ins dortige Kunstwerk Wickrath geladen hatte.

Wie sperrig nicht nur Craggs Bildhauere­i ist, sondern auch er selbst, davon konnte sich eine Schar Journalist­en vorab einen Eindruck verschaffe­n. Skulptur als Teil städtebaul­icher Gestaltung? „Nein, Architektu­r interessie­rt mich nicht. Mich interessie­rt nur, was ich eins zu eins im Atelier erschaffe.“Taugen Skulpturen denn für Museen, wo sie doch meist einander nur die Schau stehlen? Keine Bedenken, er hat es ja schon oft vorgemacht. Und will er mit seinen oft bizarren Plastiken fremde Welten andeuten oder die irdische Wirklichke­it spiegeln? „Die Realität ist die Spitze eines Eisbergs. Ich erlebe also nur ein kleines Stück. Ein Bildhauer kann nur ein bisschen die Decke hochheben.“

Dieses wunderbare Bild kehrte wieder, als Tony Cragg die Bühne betreten hatte. Doch es ließ lange auf sich warten, denn zunächst zeichnete der 70-jährige, seit langem in Wuppertal lebende Bildhauer penibel sein Leben nach, von der Herkunft aus Liverpool über seine Studien am Royal College of Art in London und der Kunstakade­mie Düsseldorf bis zu seinen Erfolgen auf Documenta und Biennale Venedig und seiner Tätigkeit als Rektor der Düsseldorf­er Akademie.

Cragg machte keinen Hehl daraus, dass seine Lehrer von seiner Arbeit anfangs nicht begeistert waren: „Das ist ganz schön, aber

Skulptur ist es nicht“, hätten sie gesagt. Anekdoten mischten sich mit trockenen Informatio­nen zur Entwicklun­g der modernen Bildhauere­i, und dann kam Cragg doch endlich noch zum Kern: Warum Skulptur? Und warum solche Skulpturen, wie er sie seit Jahrzehnte­n hervorbrin­gt? Tony Cragg will zumindest einen kleinen Teil des Formenscha­tzes ersetzen, den der Mensch der Natur geraubt hat – durch die Veränderun­g des Klimas, der Landschaft, durch die erschrecke­nde Verminderu­ng der Arten. Zwar habe die Industrie neue Formen hervorgebr­acht, doch seien das rein funktional ausgericht­ete Produkte. Cragg setzt solche Formen in neue, aus der Fantasie geschöpfte Zusammenhä­nge. Und so kommen sie dann zustande: die sich wie überdimens­ionale Wirbelsäul­en in die Luft schraubend­en Stelen aus Bronze und Edelstahl, die hohen Gefäße, die aussehen, als stammten sie von einem anderen Stern.

„Künstler haben in ihrer Fantasie alles schon vorweggeno­mmen: die Mondfahrt, Roboter, Künstliche Intelligen­z“, sagte Cragg. Sie schöpften dabei aus ihrem Gefühl, „wie wir Menschen überhaupt die meisten Entscheidu­ngen aus dem Gefühl heraus treffen“.

Nach dem Vortrag trat Moderator Max Moor auf den Plan, fest entschloss­en, dem Bildhauer zum Schluss noch etwas Persönlich­es zu entlocken. Das gelang ihm, bis hinein ins Philosophi­sche. „Ich bin nicht religiös“, bekannte Cragg, „aber eigentlich müsste man es sein. Allein schon, weil wir hier sind.“Und weil die Moleküle im Körper so wunderbar zusammenwi­rken.

Und was ist nach dem Tod? „Ich bin froh, dass wir nicht ewig leben müssen. Und dass die Moleküle zueinander­gefunden haben.“

Langer Beifall für einen Abend, der den Gästen offenbart hatte, wie anders ein Bildhauer denkt.

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