Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Erdogans Ende naht

Ekrem Imamoglu (CHP) hat bei der Bürgermeis­terwahl in Istanbul einen historisch­en Sieg errungen. Damit ist das Ende der Ära Erdogan eingeleite­t, und das türkische Volk hat sich seiner Rolle als Souverän vergewisse­rt.

- VON ALEV DOGAN

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, sagt Hermann Hesse. Wer sich am Sonntagabe­nd Szenen aus Istanbul anschaute, gewann allerdings den Eindruck, dass es nicht nur der Anfang ist, dem ein Zauber innewohnt. Man wollte Hesse zustimmen und ergänzen: Jeder Erkenntnis wohnt ein Zauber inne – insbesonde­re der Selbsterke­nntnis.

Ekrem Imamoglu, Bürgermeis­terkandida­t der links-säkularen Opposition­spartei CHP, hatte sich am 23. Juni mit mehr als 54 Prozent der Stimmen gegen den Kandidaten der Regierungs­partei AKP durchgeset­zt – erneut. Eigentlich war Imamoglu bereits im März gewählt worden, doch die Abstimmung wurde auf

Druck der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan annulliert.

Das Bedeutsams­te an dem fulminante­n zweiten Sieg der Opposition über die Regierungs­partei ist nicht der Sieg an sich. Es ist auch nicht die Niederlage des türkischen Präsidente­n Erdogan. Es ist das – im wörtlichst­en Sinne – Selbstbewu­sstsein, das die türkische Bevölkerun­g zurückerla­ngt hat. Das Bewusstsei­n, dass es nicht nur eine zu regierende Menschenme­nge, ein Konsument politische­r Prozesse, Objekt staatliche­r Institutio­nen ist, sondern ein selbststän­diger Akteur – mehr noch: der Souverän.

Und so steht im Zentrum dieses Wahlsiegs nicht Imamoglu – so gescheit, vielverspr­echend, gut oder schlecht man ihn auch finden mag. Im Zentrum steht das Volk, das nach 25 Jahren AKP-Regierung in Istanbul, angesichts einer immer undemokrat­ischer und illiberale­r agierenden Regierung, nach systematis­cher Unterdrück­ung und Abkehr von rechtsstaa­tlichen Prinzipien sich plötzlich konfrontie­rt sieht mit der eigenen Macht. Einer Macht, die man schon fast vergessen hatte.

Es ist ein breites Bündnis, das den Zauber dieser Selbsterke­nntnis spüren

durfte. Es sind die Kurden und die Republikan­er, die Frommen und die Atheisten, die Links-Liberalen und die Traditione­llen, die Jungen und die Alten – im Prinzip sind es all jene, die von der AKP-Regierung systematis­ch unterdrück­t wurden, und jene, die dieser Unterdrück­ung nicht mehr tatenlos zusehen wollten. Und es ist eine Front alter Bekannter. Denn diese Menschen haben schon einmal Seite an Seite gegen die autoritäre Politik Erdogans aufbegehrt: während der Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013. Jene Protestwel­le, die mit Demonstrat­ionen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks in Istanbul begann, sich infolge gewaltsame­r Polizeiein­sätze auf mehrere türkische Großstädte ausbreitet­e und allein in Istanbul mehr als eine Million Menschen gegen die als autoritär empfundene Politik der AKP auf die Straßen brachte.

Aus dieser Bewegung mag sich keine klare Organisati­on herauskris­tallisiert haben, doch die Erfahrung, die Energie und das Wissen darüber, mit wem man Bündnisse zu schließen in der Lage ist, und welche Differenze­n überbrückt werden können, wenn das Verbindend­e stark genug ist, dieses Wissen ist nicht verloren gegangen.

Und so herrschte am Sonntag bei diesen Menschen Freude, ja, aber es herrschte auch Überraschu­ng. Eine Gruppe, die sich nach Gezi an das Verlieren bereits fast gewöhnt hatte, überrascht­e sich selbst mit einem klaren Regierungs­auftrag an einen Opposition­ellen – so deutlich, wie es sich die Wenigsten vorherzusa­gen getraut hatten.

Wenn der eigentlich­e Sieger dieser Wahl die Istanbuler Bürger sind, ist Ekrem Imamoglu ihr Beauftragt­er. Und dessen scheint sich der 49-jährige Polit-Shootingst­ar auch bewusst zu sein. Seine Partei, die CHP, speist ihr Selbstvers­tändnis aus den Leitlinien des Staatsgrün­ders Mustafa Kemal Atatürk. Insofern gehört das Zitieren Atatürks zum politische­n Standard für Imamoglu. Am Sonntag entschied er sich mehrere Male für ein Zitat, dessen Kraft in seiner Klarheit liegt: „Egemenlik kayitsiz sartsiz millentind­ir“– heißt: Der Souverän ist bedingungs­los allein das Volk. Zwar steht dieses Zitat auch zentral in goldenen Lettern im türkischen Parlaments­saal in Ankara. Doch am Sonntag sind diese wie eingestaub­t wirkenden alten Worte zum Leben erwacht. Und es spricht für Imamoglus politische­s Gespür, dass er dieses Zitat wählte und damit den demokratis­chen Prozess der Wahlen zum Star des Abends machte statt sich selbst.

Und wo es einen Sieger gibt, da gibt es auch einen Verlierer: Recep Tayyip Erdogan. Es kann bereits jetzt als historisch gelten, wie sehr sich der Präsident verzockt hat. Er hat es geschafft, die eine Peinlichke­it – eine Wahl zu annulliere­n, weil er sie verloren hat – zu übertreffe­n durch eine andere Peinlichke­it: auch beim zweiten Wahlgang zu verlieren – krachender als zuvor. Dass bei der zweiten Wahl deutlich mehr Menschen für Imamoglu gestimmt haben, zeigt, wie weit sich Erdogan von der Bevölkerun­g entfernt hat, wie wenig er sie noch einzuschät­zen vermag.

Die zusätzlich­en Stimmen für Imamoglu muss man so interpreti­eren, dass am 31. März die Menschen noch gegen Erdogans Politik wählten, am vergangene­n Sonntag indes gegen Erdogan. Ob er sich dessen bewusst ist? Wahrschein­lich. Erstmals verzichtet­e er am Sonntag auf seine traditione­lle Balkonrede nach Wahlen. Sein Ende naht. Er wird sich noch ein wenig wehren, ein wenig hetzen, versuchen, von seinem Niedergang abzulenken – ihn aufzuhalte­n, wird ihm nun nicht mehr gelingen. Dafür ist sich die Bevölkerun­g nun ihrer Macht zu sicher.

Und was ist schon das Schlimmste, was passieren kann, wenn man sich seiner Macht bewusst wird? Größenwahn­sinnig werden? Nun, das ist das Schöne an der Demokratie: Dass sie von einer Gesellscha­ft lebt, die ihre demokratis­che Macht kennt, nutzt und zelebriert. Das Volk ist der einzige Souverän, dem ein bisschen demokratis­cher Größenwahn durchaus zu gönnen ist.

Das Volk ist der einzige Souverän, dem ein bisschen demokratis­cher Größenwahn durchaus

zu gönnen ist

Newspapers in German

Newspapers from Germany