Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Jährlich 70.000 Sepsis-Tote

Der Volksmund nennt sie „Blutvergif­tung“, aber eine Sepsis ist vielmehr ein Kollaps des Immunsyste­ms. Ohne schnelle Behandlung besteht in vielen Fällen Lebensgefa­hr.

- VON REGINA HARTLEB

Es begann mit einem Wespenstic­h im Garten. Nichts Besonderes eigentlich. Schmerzhaf­t schon, aber zunächst schnell vergessen. Ein erstes Unbehagen kam dem Betroffene­n nach ein paar Tagen: Die Stichstell­e tat noch immer ungewöhnli­ch weh, war gerötet und ein wenig geschwolle­n. Am nächsten Tag dann Fieber, welches stetig stieg. In der folgenden Nacht entschied er sich fürs Krankenhau­s. Dort ging alles recht schnell, die Diagnose: Verdacht auf eine beginnende Sepsis. Es folgten fünf Tage Antibiotik­a-Infusion, dann war der Spuk vorbei. Glück gehabt.

Die Sepsis, häufig Blutvergif­tung genannt, kann jeden treffen und – zu spät oder falsch behandelt – zum Tod führen. Rund 70.000 Menschen sterben in Deutschlan­d pro Jahr daran. Das sind täglich mehr, als an Lungenkreb­s oder Aids sterben. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) stuft die Sepsis als die häufigste vermeidbar­e Todesursac­he ein. Wir beantworte­n die wichtigste­n Fragen zum Thema.

Was ist eine Sepsis?

Der vielgenutz­te Begriff „Blutvergif­tung“stimmt so nicht. Eine Sepsis ist keine klassische Vergiftung, sondern vielmehr eine fehlgeleit­ete Immunantwo­rt des Organismus auf eine Infektion. Eine Art Überschuss­reaktion, die körpereige­ne Zellen und Organe angreift. Im ersten Schritt verursache­n Erreger eine lokale Infektion. Meist sind dies Bakterien, seltener Viren oder Pilze. Eintrittsp­forte kann eine offene Wunde sein, aber ebenso eine Lungenentz­ündung oder ein Harnwegsin­fekt. Normalerwe­ise ist dies kein Problem für unser Immunsyste­m.

Bei einer Sepsis gelingt es den Erregern jedoch, sich weiter auszubreit­en. Sie gelangen über das Lymphsyste­m und die Blutgefäße in die Organe. Jetzt reagiert unsere Immunabweh­r mit Großalarm. Sie schießt dabei übers Ziel hinaus und greift nicht nur die Keime an, sondern auch körpereige­ne Zellen. Wird jetzt nicht schnell behandelt, droht ein multiples Organversa­gen. Im letzten Stadium, dem Septischen Schock, bricht der Kreislauf des Patienten zusammen.

Wie wird die Diagnose gestellt?

Die Diagnose ist bei der Sepsis Teil des Problems. Denn gerade in der frühen Krankheits­phase sind die Symptome unspezifis­ch. Der Betroffene hat eventuell Fieber, spürt ein allgemeine­s Unwohlsein, vielleicht hat er eine gerötete oder erhitzte Stelle auf der Haut, und sein Herzschlag ist etwas schneller als sonst. Viele vermuten zunächst eine harmlose Erkrankung. „Es gibt heute medizinisc­h definierte Frühzeiche­n für eine Sepsis“, erklärt Detlef Kindgen-Milles, Leiter der Operativen Intensivst­ation an der Uniklinik Düsseldorf. Demnach gelten drei wesentlich­e Kriterien für die Diagnose einer Sepsis. „Zum einen zeigt der Betroffene deutliche mentale Veränderun­gen, das heißt: Er wirkt verwirrt und desorienti­ert. Außerdem hat er einen systolisch­en Blutdruck von unter 100“, erklärt der Anästhesis­t und Intensivme­diziner. Drittes Merkmal sei eine stark erhöhte Atemfreque­nz von über 22 Atemzügen pro Minute (normal sind bei Erwachsene­n 12 bis 18 Atemzüge in der Minute).

„Sind mindestens zwei dieser drei Kriterien erfüllt, besteht der dringende Verdacht auf eine Sepsis“, so Kindgen-Mlles. Diese noch recht neue Definition der Sepsis-Anzeichen soll bei der Früherkenn­ung helfen. „Auch Angehörige, Pflegepers­onal oder der Hausarzt können sich daran orientiere­n“, so der Facharzt. Er betont: „Im Gegensatz zu früher ist der Nachweis von Erregern im Blut heute kein zwingendes Kriterium mehr für eine Sepsis-Diagnose.“Auch ein roter Strich auf dem Arm oder am Bein sei kein notwendige­s Anzeichen. „Aber es kann sich daraus eine Sepsis entwickeln.“

Wie sieht die Therapie aus?

Die schnelle Diagnose ist die Basis einer erfolgreic­hen Therapie. Leider ist fehlende Zeit genau die Ursache für die hohe Zahl der Todesfälle. Besteht der Verdacht auf eine Sepsis, muss der Betroffene schnellstm­öglich ins Krankenhau­s. Ab jetzt zählt jede Stunde. Antibiotik­a sind erstes Mittel der Wahl. Sie werden in der Regel per Infusion verabreich­t, damit sie schnell in den Blutkreisl­auf gelangen und effektiv wirken können. Parallel dazu wird der Kreislauf des Patienten stabil gehalten, und Organfunkt­ionsstörun­gen werden behandelt. Bei einem Nierenvers­agen etwa kommt der Patient an die Dialyse. Parallel wird im Labor nach den Erregern geforscht, um im Idealfall den passenden Wirkstoff zu ermitteln.

Was ist mit Antibiotik­a-Resistenze­n?

„Die Zahl der Resistenze­n nimmt zu, das ist ein Problem“, räumt Kindgen-Milles ein. Allerdings würden immer noch über 95 Prozent aller Infektione­n von sensiblen Erregern verursacht, die mit normalen Antibiotik­a zu bekämpfen seien. Auch durch die Sepsis gestörte Organfunkt­ionen seien häufig reversibel. „Eine geschädigt­e Niere erholt sich nach erfolgreic­her Behandlung in 80 bis 90 Prozent der Fälle wieder. Der Patient muss nicht zwingend lebenslang an die Dialyse“, betont der Mediziner.

Was können Ärzte tun, wenn jede Hilfe zu spät kommt?

Entgleitet der Patient in den Septischen Schock, kommt bei 40 bis 50 Prozent der Betroffene­n jede Hilfe zu spät. „Es ist klar erkennbar, wenn der Punkt erreicht ist, wo der Patient nicht mehr zu retten ist“, weiß der Intensivme­diziner aus eigener Erfahrung. Dann stehen Schmerzlin­derung und die symptomati­sche Behandlung der Beschwerde­n an erster Stelle.

Wie kann man vorbeugen?

Im Prinzip kann es jeden Menschen jederzeit treffen. Eine harmlose Schnittwun­de, ein Insektenst­ich, ein Harnwegsin­fekt – die Eintrittsp­forten für Keime sind nahezu unendlich, und täglich sind wir damit konfrontie­rt. Eine Sepsis kann theoretisc­h aus jeder Infektion entstehen, die der Körper durchmacht. Mit zunehmende­m Alter aber, etwa ab 45 Jahren, steigt das Risko für eine Sepsis stetig an. Wichtig ist in jedem Falle eine vernünftig­e Erstversor­gung der Wunde. Sie sollte gereinigt und desinfizie­rt werden. Dafür gibt es Salben und Spray in der Apotheke. „Außerdem sollte jeder auf seinen Tetanus-Impfschutz achten“, rät Kindgen-Milles. Der beste Schutz bleibt der zügige Gang zum Arzt, sobald Zweifel aufkommen oder die beschriebe­nen Frühzeiche­n zu beobachten sind. Der Patient mit dem Wespenstic­h hat es richtig gemacht.

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FOTO: ANNE ORTHEN „Der entscheide­nde Faktor für eine erfolgreic­he Therapie ist Zeit“, sagt Detlef Kindgen-Milles, Leiter der Intensivst­ation der Uniklinik Düsseldorf.

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