Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Staatliche Stellen versagten in Lügde“
Experten kritisieren Defizite der Landespolitik im Kinderschutz und fordern verbindliche Standards für Jugendämter. CDU, FDP, SPD und Grüne einigen sich doch auf ein gemeinsames Konzept für den Untersuchungsausschuss.
Eine Mutter meldet sich bei einer Beratungsstelle. Ihr elfjähriger Sohn ist als sexuell übergriffig aufgefallen, sie sucht Hilfe. Doch die Experten von Zartbitter können ihr nur ein Angebot nennen, das mehr als 50 Kilometer entfernt liegt und mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen ist.
Dieses Beispiel sei in NRW kein Einzelfall, sagt Ursula Enders, Mitbegründerin von Zartbitter Köln, einer Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen. Bis Ende der 90er Jahre sei NRW neben Berlin das Bundesland mit den größten fachpolitischen Aktivitäten gegen sexuellen Missbrauch gewesen. Heute kämpfen die Beratungsstellen Enders zufolge mit einer Deckelung der finanziellen Hilfen durch das Land. Habe das Land in den 90er Jahren noch rund 40 Prozent der Personalkosten übernommen, so liege dieser Anteil zurzeit nur noch bei 27 Prozent. Akribisch listet Enders Fehler auf, die im Fall des mutmaßlichen massenhaften Kindermissbrauchs in Lügde gemacht wurden. Ein Beispiel: Als es einen ersten Verdacht gab, sei der Täter viel zu früh damit konfrontiert worden und habe so die Kinder noch stärker einschüchtern können.
Fast alle Kinderschutz-Experten, die im Landtag zum Thema geladen sind, betonen, wie wenig Erzieher, Sozialpädagogen, Jugendhilfe und Lehrer auf solche Fälle vorbereitet sind. „Mit Lügde müssen wir erneut erleben, wie das Versagen staatlicher Institutionen über Jahre das unvorstellbare Leid zahlreicher Kinder nach sich zieht“, sagt Maud Zitelmann vom Deutschen Kinderverein. Kinderschutz müsse in der Erzieherausbildung und in einschlägigen Studiengängen zum Pflichtfach werden. Groß sei der Handlungsbedarf auch bei den Jugendämtern. Zitelmann schlägt ein „Modellprojekt Jugendamt“vor, um Standards zu schaffen, an die sich künftig alle NRW-Jugendämter halten müssen. Im Fall Lügde waren zwei Ämter zu jeweils völlig unterschiedlichen Einschätzungen gekommen. Notwendig sei auch, und das betonen die Experten besonders, die unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung des Falls. „Politische Schlammschlachten sind das Letzte, was die betroffenen Kinder jetzt bräuchten“, sagt Enders mit Blick auf einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA).
Am Mittwoch will der Landtag die Einsetzung dieses Gremiums beschließen, das wie Gerichte Zeugen laden und vertrauliche Unterlagen einsehen kann. CDU, SPD, Grüne und FDP konnten sich bis Montag aber nicht auf einen gemeinsamen Auftrag einigen: Die SPD bestand darauf, dass der Ausschuss mit der Aufarbeitung möglicher Fehler von NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) beginnt und sah mögliche Probleme bei den Jugendämtern in einer gesonderten Kommission besser aufgehoben. Die CDU wiederum wollte mit den Fehlern auf Seiten der Jugendämter beginnen, um möglichst schnell Erkenntnisse für eine Reform dieses Bereichs zu gewinnen.
Beinahe hätte der Landtag also zwei Untersuchungsausschüsse zum gleichen Thema gründen müssen. Bei einer Krisensitzung am späten Montagnachmittag konnten sich die Fraktionschefs sich aber doch noch auf einen gemeinsamen Antrag einigen, der alle Beratungsgegenstände umfasst. Nun soll der Ausschuss eingangs wohl die Fehler auf Seiten von Polizei und Jugendämtern aufarbeiten und danach die Rolle der Landesregierung.
Für die SPD wird nach Informationen unserer Redaktion der Innenpolitiker Andreas Bialas in dem PUA die Fäden zusammenhalten, Obfrau der Grünen soll Verena Schäffer werden. Für die FDP werden wohl Marc Lürbke und Marcel Hafke in das Gremium ziehen, auf Seiten der CDU wird Dietmar Panske gehandelt.