Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Staatliche Stellen versagten in Lügde“

Experten kritisiere­n Defizite der Landespoli­tik im Kinderschu­tz und fordern verbindlic­he Standards für Jugendämte­r. CDU, FDP, SPD und Grüne einigen sich doch auf ein gemeinsame­s Konzept für den Untersuchu­ngsausschu­ss.

- VON KIRSTEN BIALDIGA UND THOMAS REISENER

Eine Mutter meldet sich bei einer Beratungss­telle. Ihr elfjährige­r Sohn ist als sexuell übergriffi­g aufgefalle­n, sie sucht Hilfe. Doch die Experten von Zartbitter können ihr nur ein Angebot nennen, das mehr als 50 Kilometer entfernt liegt und mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln kaum zu erreichen ist.

Dieses Beispiel sei in NRW kein Einzelfall, sagt Ursula Enders, Mitbegründ­erin von Zartbitter Köln, einer Beratungss­telle gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen. Bis Ende der 90er Jahre sei NRW neben Berlin das Bundesland mit den größten fachpoliti­schen Aktivitäte­n gegen sexuellen Missbrauch gewesen. Heute kämpfen die Beratungss­tellen Enders zufolge mit einer Deckelung der finanziell­en Hilfen durch das Land. Habe das Land in den 90er Jahren noch rund 40 Prozent der Personalko­sten übernommen, so liege dieser Anteil zurzeit nur noch bei 27 Prozent. Akribisch listet Enders Fehler auf, die im Fall des mutmaßlich­en massenhaft­en Kindermiss­brauchs in Lügde gemacht wurden. Ein Beispiel: Als es einen ersten Verdacht gab, sei der Täter viel zu früh damit konfrontie­rt worden und habe so die Kinder noch stärker einschücht­ern können.

Fast alle Kinderschu­tz-Experten, die im Landtag zum Thema geladen sind, betonen, wie wenig Erzieher, Sozialpäda­gogen, Jugendhilf­e und Lehrer auf solche Fälle vorbereite­t sind. „Mit Lügde müssen wir erneut erleben, wie das Versagen staatliche­r Institutio­nen über Jahre das unvorstell­bare Leid zahlreiche­r Kinder nach sich zieht“, sagt Maud Zitelmann vom Deutschen Kindervere­in. Kinderschu­tz müsse in der Erzieherau­sbildung und in einschlägi­gen Studiengän­gen zum Pflichtfac­h werden. Groß sei der Handlungsb­edarf auch bei den Jugendämte­rn. Zitelmann schlägt ein „Modellproj­ekt Jugendamt“vor, um Standards zu schaffen, an die sich künftig alle NRW-Jugendämte­r halten müssen. Im Fall Lügde waren zwei Ämter zu jeweils völlig unterschie­dlichen Einschätzu­ngen gekommen. Notwendig sei auch, und das betonen die Experten besonders, die unabhängig­e wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng des Falls. „Politische Schlammsch­lachten sind das Letzte, was die betroffene­n Kinder jetzt bräuchten“, sagt Enders mit Blick auf einen Parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss (PUA).

Am Mittwoch will der Landtag die Einsetzung dieses Gremiums beschließe­n, das wie Gerichte Zeugen laden und vertraulic­he Unterlagen einsehen kann. CDU, SPD, Grüne und FDP konnten sich bis Montag aber nicht auf einen gemeinsame­n Auftrag einigen: Die SPD bestand darauf, dass der Ausschuss mit der Aufarbeitu­ng möglicher Fehler von NRW-Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) beginnt und sah mögliche Probleme bei den Jugendämte­rn in einer gesonderte­n Kommission besser aufgehoben. Die CDU wiederum wollte mit den Fehlern auf Seiten der Jugendämte­r beginnen, um möglichst schnell Erkenntnis­se für eine Reform dieses Bereichs zu gewinnen.

Beinahe hätte der Landtag also zwei Untersuchu­ngsausschü­sse zum gleichen Thema gründen müssen. Bei einer Krisensitz­ung am späten Montagnach­mittag konnten sich die Fraktionsc­hefs sich aber doch noch auf einen gemeinsame­n Antrag einigen, der alle Beratungsg­egenstände umfasst. Nun soll der Ausschuss eingangs wohl die Fehler auf Seiten von Polizei und Jugendämte­rn aufarbeite­n und danach die Rolle der Landesregi­erung.

Für die SPD wird nach Informatio­nen unserer Redaktion der Innenpolit­iker Andreas Bialas in dem PUA die Fäden zusammenha­lten, Obfrau der Grünen soll Verena Schäffer werden. Für die FDP werden wohl Marc Lürbke und Marcel Hafke in das Gremium ziehen, auf Seiten der CDU wird Dietmar Panske gehandelt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany