Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Langeweile ist für Vogel ein Fremdwort

Ein Jahr nach ihrem Unfall ist die Radsportle­rin Politikeri­n und TV-Expertin.

- VON STEFAN TABELING

(dpa) Kristina Vogel ist im Stress. Reha in Berlin, Fraktionss­itzung in Erfurt, ein Besuch bei den Rad-Meistersch­aften in Spremberg und ein Abstecher zum Ironman in Frankfurt – der Terminkale­nder ist mal wieder proppenvol­l. Eine Fahrt zur Radrennbah­n nach Cottbus ist dagegen nicht vorgesehen. „Nicht, weil ich den Ort meiden will. Ich hege keinen Groll auf den Bahnradspo­rt“, sagt Vogel. Aber die Betonpiste in Cottbus, jener Ort, der ihr Leben mit einem Schlag so brutal verändert hat, muss warten.

Am Mittwoch jährt sich ihr schlimmer Trainingsu­nfall zum ersten Mal. Mit einem niederländ­ischen Nachwuchsf­ahrer war Vogel in hohem Tempo zusammenge­prallt. Lähmung vom siebten Brustwirbe­l abwärts – so lautete die niederschm­etternde Diagnose. Erst nach einem halben Jahr konnte die beste Bahnradspo­rtlerin der Welt das Krankenhau­s in Berlin wieder verlassen. Vogel nimmt ihr Schicksal auf beachtlich­e Weise an, geht an die Öffentlich­keit und will ihre Geschichte erzählen. „Es ist verrückt, was im letzten Jahr alles passiert ist. Wo ich am Anfang noch Angst hatte: Scheiße, wie kriege ich meinen Kalender oder Tag voll, da steht man auf einmal mitten im Leben drin“, sagt sie.

Das neue Leben findet nicht mehr auf dem Oval bei Tempo 60 statt. Vogel wurde inzwischen als Parteilose für die CDU in den Erfurter Stadtrat gewählt, ist eine gerngesehe­ne Gastredner­in und fungiert zukünftig als Radsport-Expertin für das ZDF. Dazu will sie bald wieder in den Dienst bei der Bundespoli­zei zurückkehr­en. Sie hätte auch in den Vorruhesta­nd gehen können. Aber nicht Vogel, nicht mit 28. „Ich versuche bei allem das Positive zu sehen. Es heißt ja auch: Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“, sagt sie und ist froh, dass es nicht langweilig geworden ist. In ein Loch sei sie nicht gefallen, warum auch? Natürlich gebe es Momente, wo sie am liebsten gegen den Schrank trete. „Aber das geht ja nicht“, sagt sie fast schon ein wenig scherzhaft.

„Nur weil ich jetzt im Rollstuhl sitze, warum soll ich nicht genauso krass sein wie früher? Oder noch krasser?“, fragt Vogel und gibt die Antwort selbst. Vor zwei Wochen hat sie einen Tandem-Fallschirm­sprung gemacht aus 4000 Metern Höhe. „Wahnsinn“, schwärmt die zweimalige Olympiasie­gerin und elfmalige Weltmeiste­rin. Noch im Krankenhau­s hat sie sich eine Liste mit Dingen gemacht, die sie unternehme­n will. Alles Sachen, die früher dem Profisport zum Opfer fielen, die sie nun nachholen möchte. Deshalb will sie aktuell auch gar nicht über eine paralympis­che Karriere nachdenken.

Hinter Vogel liegt ein hartes, lehrreiche­s Jahr. Alles hat sich geändert, auch „entschleun­igt“, wie sie sagt. Sie musste sich in Geduld – ihr „Unwort des Jahres 2018“– üben. Sei es im Rollstuhl oder beim Autofahren mit Handgas. Gemeistert hat sie es trotzdem. Ihre Zeiten sind mal wieder rekordverd­ächtig. Früher brauchte sie 20 Minuten zum Einsteigen, jetzt sind es drei bis fünf. „Eine solche Athletin wie sie hatte ich noch nicht. Sie war von Anfang an so engagiert, so optimistis­ch“, sagte Reha-Trainer Bodo Heinemann dem Internetpo­rtal „Sportbuzze­r“.

Dreimal pro Woche ist Vogel noch im Unfallkran­kenhaus Berlin zur Rehabilita­tion, dort hat sie auch Wolfgang Schäuble getroffen. „Ich nehme ihn als Vorbild“, sagt Vogel über den langjährig­en Bundesmini­ster und jetzigen Bundestags­präsidente­n. So lernte die Erfurterin auch die andere Seite kennen. Dass sie als Politikeri­n plötzlich im Internet angegriffe­n wurde, fand sie „krass“. Beeindruck­en lässt sie sich davon nicht. Sie will weiter die Dinge so ansprechen, wie sie es meint.

Vogel ist geradehera­us. Zu einer Aussprache mit dem niederländ­ischen Unfallveru­rsacher ist es bislang noch nicht gekommen, auch das Verfahren der Staatsanwa­ltschaft ist noch nicht abgeschlos­sen. Vogel ist da persönlich schon weiter. „Im Alltag habe ich es fast vergessen“, sagt Vogel über jenen 26. Juni 2018.

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FOTO: DPA Kristina Vogel sitzt im Unfallkran­kenhaus Berlin in ihrem Rollstuhl.

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