Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Als der Wagen nicht kam
Meichsner war ein überaus intelligenter, fleißiger und tüchtiger Mann von anständigem Charakter und guten Formen, der meiner Erinnerung nach schon mit vierunddreißig Jahren Generalstabsoberst geworden war. Der Vater war Superintendent in Wittenberg gewesen, und dementsprechend war Meichsners sittliche und religiöse Haltung und Bildung. Infolge der Überlastung fing er an, mehr zu trinken, als ihm gut war. Außerdem begann er, um sich bei Übermüdung arbeitsfähig zu erhalten, Pervitin zu schlucken und zu spritzen, was damals als harmloses Reizmittel angesehen wurde, welches die Flieger bei besonders intensiver Inanspruchnahme erhielten. Schließlich sah ich fast jeden Morgen den Sanitätsunteroffizier Quest, den bekannten Schauspieler und feinen Regisseur, an meinem Zimmer vorbeikommen auf dem Wege zu Meichsner, um ihm eine Spritze zu verabreichen, deren gefährliche Drogenwirkung beim Militär anfänglich nicht bekannt war. Infolgedessen hatte die Gesundheit des blühend kräftigen Meichsner gelitten und seine Willenskraft nachgelassen. Dieser Umstand – nicht etwa Vorsicht oder Meinungsänderung – muss der Grund dafür gewesen sein, dass Meichsner sich aus der Verbindung mit Stauffenberg zurückzog. Ohne diese unglückliche Verkettung wäre sonst Meichsner nach seiner energischen und entschlossenen Art der Mann gewesen, um die Tat gegen Hitler zu vollbringen, zumal er ständigen Zugang zu den Lagebesprechungen Hitlers in Wolfsschanze hatte. Es ist mir nachträglich bewusst geworden, anhand der in dem Schlafwagengespräch gewechselten
Andeutungen, dass es sich dabei um die endgültige Ablehnung Meichsners gehandelt hat, die Hand selber an Hitler zu legen, weil er sich die Kraft zu der Tat nicht mehr zutraute. Ich habe in dem Schlafwagen Stauffenbergs Energie und Geschick bewundern können. Als wir zu Bett gingen, fragte ich ihn, ob ich ihm beim Ausziehen helfen dürfe, da ihm die eine Hand ganz und von der anderen zwei Finger fehlten. Lachend lehnte er ab und ehe ich mich versah, hatte er sich mit Fingern und Zähnen ausgezogen und saß im Schlafanzug da. Um den Hals trug er ein goldenes Kettchen mit einem kleinen Kreuz.
Am 16. Juli, dem Sonntag vor dem 20. Juli, war ich abends bei Yorck zum Essen. Die Gräfin war in Kauern, und wir waren allein, denn Gerstenmaier, der nach seiner Ausbombung bei Yorcks wohnte, war verreist. Später kam noch für eine Weile, wie früher schon erzählt, Frau Reichwein. Yorck berichtete, dass Stauffenberg nicht zum Handeln gekommen sei. Das Unternehmen werde aber bestimmt in den nächsten Tagen vor sich gehen. Wir waren in knisternder Spannung, denn es war ja fast ein Wunder, dass die Gestapo noch nicht zugegriffen hatte. Nichts ist schwerer als solches Zuwarten. Yorck äußerte die Befürchtung, das Haus werde bereits überwacht. Wir spähten durch die Gardinen nach einem gegenüberliegenden Fenster, an dem Yorck einen verdächtig erscheinenden Mann vorher gesehen hatte. Straße und Häuser lagen jedoch friedlich und wie gewohnt da. Wir schreckten auf, als die arme Frau Reichwein klingelte, und das gute, zuverlässige Mariechen blickte bekümmert drein, als sie die leidbeladene Frau und das ungewohnte Gebaren von uns beiden sah. Trotz der Aufregung waren wir aber zuversichtlich und in der gehobenen Seelenhaltung, die durch große Gefahren bewirkt wird. Yorck berichtete, dass Schulenburg, der infolge des Ausfalls von Leber das Innenministerium übernehmen müsse, ihn gebeten habe, Staatssekretär in der Reichskanzlei zu werden. Er habe sich ausnahmsweise bis zur Befreiung von Leber aus dem Gefängnis „als interner Berater ohne Funktion“hierzu bereit erklärt und zugleich versprochen, mich zu bitten, als Staatssekretär bei Schulenburg zu fungieren. Schulenburg habe hilfeflehend darum gebeten, weil er sonst mit dem Gördelerladen nicht fertig werde. Deshalb habe er Schulenburgs Bitte mit der genannten Einschränkung erfüllt, die unsern bisherigen Standpunkt, keine führenden Ämter zu übernehmen, wahre. Die Hauptsache sei, dass die Sache zunächst einmal in Funktion komme. Ich stimmte ihm bei und betonte, dass ich keinerlei Anlagen für einen Polizeiminister habe, ich wolle in den Auswärtigen Dienst. Yorck hatte vor, am Montag zu der Hochzeit Pückler nach Eisenach zu fahren, sowohl um sich der Spannung des Wartens zu entziehen, als auch um durch eine plötzliche Absage nicht Aufmerksamkeit hervorzurufen. Er hatte mit Stauffenberg verabredet, dass dieser ihm eine harmlose telegraphische Nachricht nach Eisenach schicken werde, aus der der Tag des Unternehmens ersichtlich sein sollte. Nach Berlin zurückgekehrt wollte Yorck mich dann benachrichtigen oder im Auto abholen lassen. Treffpunkt sollte das Zimmer des Grafen Schwerin in der Prinz-Heinrich-Straße, dicht an der Bendlerstraße sein. Dort sollten sich die Zivilisten versammeln, die an dem Gelingen des Unternehmens mithelfen wollten. Yorck war noch zweifelhaft, ob er dorthin kommen oder in der Bendlerstraße 10 „Stauffenberg, auf dem allein doch alles lastet, behilflich sein“werde. Als ich mich spät in der Nacht von Peter Yorck verabschiedete, war es das letzte Mal, dass ich den treuen und liebenswerten Freund gesehen habe. Yorck ist dann nach Thüringen gefahren, spät in der Nacht zum 20. Juli zurückgekommen, gegen Mittag zur Bendlerstraße gegangen, und von dort den Weg zum Galgen.
Am Tage nach unserm Treffen konnte sich nichts ereignen, vielleicht aber schon am 18. Juli. Ich wartete in Eiche voll Ungeduld. Nichts geschah! Keine Nachricht! Ebenso verlief der 19. Juli in lähmender Ungewissheit. Ich saß völlig isoliert in Eiche, da wir seit der Verhaftung am 4. Juli wegen der Gefahr der Gestapokontrolle vereinbart hatten, uns untereinander nicht telefonisch anzurufen. Anderseits konnte ich nicht nach Berlin fahren, da jederzeit die Nachricht von Yorck kommen konnte. Am 20. wurde das lauernde Warten schier unerträglich. Zudem hatte ich noch böse Zahnschmerzen bekommen. Gegen 1 Uhr mittags ging ich mit irgendeinem Vorwand zu Meichsner, um herauszubekommen, ob er etwas aus Wolfsschanze gehört hatte. Offenbar war er völlig unbeschwert und wusste von nichts. Die Zeit der Lagebesprechung in Wolfsschanze war also wieder verstrichen, ohne dass etwas geschehen war. Ich wartete aber noch weiter.