Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Als der Wagen nicht kam
Da die Zahnschmerzen recht böse waren, nahm ich mir gegen 4 Uhr einen Wagen und fuhr nach Berlin zu meinem Zahnarzt Prof. Kirsten am Olivaer Platz. Auf der Fahrt war nichts Auffälliges zu bemerken.
Gerade als die Behandlung beendet war, während er den Stuhl hinunterschraubte, stürzte die Sprechstundenhilfe ins Zimmer mit dem Ruf: „Misslungenes Attentat auf den Führer. Das Radio hat es soeben als Sondermeldung gebracht“. Der Hilfe merkte man an, dass sie das Misslingen bedauerte. Dr. Kirsten und ich blieben sprachlos. Ich ging zerschmettert hinaus, denn die Folgen und ihr Ablauf standen mir klar vor Augen. Eine ganz leise Hoffnung hatte ich noch, es könnte eine Falschmeldung der Nazis sein. Auf dem Olivaer Platz rief ich von der Telefonzelle aus die Wohnung Yorck an. Das gute Mariechen war am Apparat, die auch ohne Namensnennung meine Stimme kannte. Auf meine Frage, wo der Graf wäre, antwortete sie, er sei ebenso wie Dr. Gerstenmaier in die Stadt gefahren und sie hätten Butterbrote mitgenommen. Sie war verstört, aber tapfer, als sie sagte: „Hoffentlich ist ihm nichts passiert.“Daraus erkannte ich, dass sie sich auf Grund der Radiomeldung und dessen, was ihr in den letzten Jahren nicht hatte entgehen können, die Dinge bereits richtig zurechtgelegt hatte. Ermahnungen zur Diskretion waren bei der frommen Seele, die zudem einsichtig und klug war, nicht am Platze, zudem gefährlich, und mit einem scherzhaften Wort, das ich mir abrang, legte ich den Hörer auf und ging zum Wagen. Der Fahrer hatte noch nichts gemerkt. Auf dem Kurfürstendamm
sah man aber sofort die Erregung, da die Leute in Gruppen umherstanden und diskutierten. Es wurden auch, ebenso wie auf dem weiteren Weg nach Potsdam, Wehrmachtkolonnen auf Kraftwagen sichtbar. Die Hauptsache war zunächst, sichere Unterrichtung über die Geschehnisse zu erhalten. Anfangs wollte ich den Stier bei den Hörnern fassen und zur Kurierstelle des Wehrmachtführungsstabes in der Bendlerstraße 10 fahren. Ich unterließ dann aber diese Fahrt in den Rachen des Löwen, weil mir klar wurde, dass ich bei Zutreffen der Radiomeldung den Häschern so selber in die Arme gefahren wäre. Die Fahrt nach Eiche war grausam, denn sehr wohl konnte inzwischen der Zusammenhang bereits dadurch offenbar geworden sein, dass man den Boten Yorcks oder seine Telefonnachricht aufgefangen hatte. Ich nahm also allen Schützengrabenmut zusammen und fuhr nach Eiche.
Das Tor war gegen sonstige Übung geschlossen, die Torwache verstärkt, und der Einlass wurde zunächst verweigert. Der Wachhabende, wider die Gewohnheit ein Offizier, fragte nach woher und wohin. Dann wurde Meichsner angerufen, und erst so erhielt ich Einlass. Es war also höchster Alarmzustand. Ich ging sofort zu Meichsner und sprach offen mit ihm unter Hinweis auf unsre gemeinsame Fahrt mit Stauffenberg. Er war ebenso offen und sehr anständig. Er wusste bereits genau Bescheid über den Ablauf in Wolfsschanze. Auch hatte er mit der Bendlerstraße laufend Verbindung gehalten und mehrfach mit Merz von Quirnheim gesprochen, so dass er auch die dortige Tragödie genau kannte. Deren weiteren Ablauf erfuhren wir dann nach und nach bis zum letzten schrecklichen Ende durch Telefongespräche, die Meichsner mit unserer Kurierstelle in der Bendlerstraße führte, deren Ordonnanzen sich dort, zitternd vor dem Geschehen um sie herum, im Zimmer eingeschlossen hatten, aber wie alle Ordonnanzen genau über alles Bescheid wussten. Diese Gespräche mit der Kurierstelle waren ungefährlich, obschon eine Telefonkontrolle eingerichtet war. Meichsner wusste nicht, wann das geschehen war, ob also seine Gespräche mit Merz von Quirnheim notiert oder abgehört waren. In Eiche war eine Telefonsperre angeordnet worden, so dass außer Meichsner überhaupt niemand von uns telefonieren konnte. Meichsner beurteilte die Lage völlig klar und richtig dahin, dass jeder Versuch, durch einen Handstreich die Gefangenen zu befreien oder gar das Unternehmen noch durchzusetzen, aussichtslos war. Nachdem feststand, dass Hitler lebte und die hitlertreue Gruppe in der Bendlerstraße die Oberhand gewonnen hatte, hätte man keinen Menschen mehr zu einem solchen Einsatz bringen können. Lähmende Furcht lag über allen. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie ungeheuerlich dieser Anschlag gegen die allmächtige Person Hitlers wirkte, sein Misslingen und die kommende Rache. Meichsner hatte Furcht, ich ebenso. Eine Flucht und ein Untertauchen in der Großstadt wäre nicht unmöglich oder aussichtslos gewesen. Bischof Wienken würde schon ein Kloster dafür gefunden haben. Es kam nicht in Frage wegen der dann sicher einsetzenden Vergeltung gegen die Familie. Außerdem bestand ja noch eine Möglichkeit, dass die Zusammenhänge nicht aufgedeckt wurden. Es galt also, die Zähne zusammenzubeißen und – wie gelernt – durchzuhalten.
Nach dem langen Gespräch mit Meichsner ging ich in das Zimmer des Majors Scheffler, Direktor bei der Tobis-Film, Antinazi, der als Verpflegungsoffizier die Weinvorräte des Stabes verwaltete und deshalb immer Zulauf hatte. Fast alle Herren des Stabes, ein kleines Dutzend aller Schattierungen, waren dort in aufgeregtem Gespräch versammelt. Dort haben wir bis zum Morgendämmern über die Vorgänge gesprochen unter erheblicher Verminderung der Alkoholvorräte, da niemand es für möglich hielt, angesichts der Lage zu Bett zu gehen. Alkohol ist in solchen Fällen beim Militär die einzige Rettung. Nach einer Weile erschien auch Meichsner. Er hatte sich die Rolle zurechtgelegt, scharf von Stauffenberg abzurücken, um sich so ein Alibi zu schaffen. Er tat das aber so übertrieben und ungeschickt, dass man das Unechte merkte, zumal jeder wusste, dass er nicht gerade begeistert war für den Nationalsozialismus. Alle hörten verwundert zu und er erhielt keinerlei Zustimmung, selbst nicht von den wenigen ausgesprochenen Hitleranhängern. Die Größe der Tragödie des Tages war zu überwältigend. Trauer und Mitleid bestimmten die Gespräche der alkoholgelösten Zungen, selbst bei den Hitleranhängern, die sich sehr anständig benahmen. Ich habe die ganze Nacht, außer von Meichsner, kein abfälliges Wort über Stauffenberg und das Unternehmen gehört. Vorherrschend war die Furcht vor den kommenden Dingen.
(Fortsetzung folgt)