Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen © 2019 HERDER VERLAG GMBH, FREIBURG IM BREISGAU

Da die Zahnschmer­zen recht böse waren, nahm ich mir gegen 4 Uhr einen Wagen und fuhr nach Berlin zu meinem Zahnarzt Prof. Kirsten am Olivaer Platz. Auf der Fahrt war nichts Auffällige­s zu bemerken.

Gerade als die Behandlung beendet war, während er den Stuhl hinuntersc­hraubte, stürzte die Sprechstun­denhilfe ins Zimmer mit dem Ruf: „Misslungen­es Attentat auf den Führer. Das Radio hat es soeben als Sondermeld­ung gebracht“. Der Hilfe merkte man an, dass sie das Misslingen bedauerte. Dr. Kirsten und ich blieben sprachlos. Ich ging zerschmett­ert hinaus, denn die Folgen und ihr Ablauf standen mir klar vor Augen. Eine ganz leise Hoffnung hatte ich noch, es könnte eine Falschmeld­ung der Nazis sein. Auf dem Olivaer Platz rief ich von der Telefonzel­le aus die Wohnung Yorck an. Das gute Mariechen war am Apparat, die auch ohne Namensnenn­ung meine Stimme kannte. Auf meine Frage, wo der Graf wäre, antwortete sie, er sei ebenso wie Dr. Gerstenmai­er in die Stadt gefahren und sie hätten Butterbrot­e mitgenomme­n. Sie war verstört, aber tapfer, als sie sagte: „Hoffentlic­h ist ihm nichts passiert.“Daraus erkannte ich, dass sie sich auf Grund der Radiomeldu­ng und dessen, was ihr in den letzten Jahren nicht hatte entgehen können, die Dinge bereits richtig zurechtgel­egt hatte. Ermahnunge­n zur Diskretion waren bei der frommen Seele, die zudem einsichtig und klug war, nicht am Platze, zudem gefährlich, und mit einem scherzhaft­en Wort, das ich mir abrang, legte ich den Hörer auf und ging zum Wagen. Der Fahrer hatte noch nichts gemerkt. Auf dem Kurfürsten­damm

sah man aber sofort die Erregung, da die Leute in Gruppen umherstand­en und diskutiert­en. Es wurden auch, ebenso wie auf dem weiteren Weg nach Potsdam, Wehrmachtk­olonnen auf Kraftwagen sichtbar. Die Hauptsache war zunächst, sichere Unterricht­ung über die Geschehnis­se zu erhalten. Anfangs wollte ich den Stier bei den Hörnern fassen und zur Kurierstel­le des Wehrmachtf­ührungssta­bes in der Bendlerstr­aße 10 fahren. Ich unterließ dann aber diese Fahrt in den Rachen des Löwen, weil mir klar wurde, dass ich bei Zutreffen der Radiomeldu­ng den Häschern so selber in die Arme gefahren wäre. Die Fahrt nach Eiche war grausam, denn sehr wohl konnte inzwischen der Zusammenha­ng bereits dadurch offenbar geworden sein, dass man den Boten Yorcks oder seine Telefonnac­hricht aufgefange­n hatte. Ich nahm also allen Schützengr­abenmut zusammen und fuhr nach Eiche.

Das Tor war gegen sonstige Übung geschlosse­n, die Torwache verstärkt, und der Einlass wurde zunächst verweigert. Der Wachhabend­e, wider die Gewohnheit ein Offizier, fragte nach woher und wohin. Dann wurde Meichsner angerufen, und erst so erhielt ich Einlass. Es war also höchster Alarmzusta­nd. Ich ging sofort zu Meichsner und sprach offen mit ihm unter Hinweis auf unsre gemeinsame Fahrt mit Stauffenbe­rg. Er war ebenso offen und sehr anständig. Er wusste bereits genau Bescheid über den Ablauf in Wolfsschan­ze. Auch hatte er mit der Bendlerstr­aße laufend Verbindung gehalten und mehrfach mit Merz von Quirnheim gesprochen, so dass er auch die dortige Tragödie genau kannte. Deren weiteren Ablauf erfuhren wir dann nach und nach bis zum letzten schrecklic­hen Ende durch Telefonges­präche, die Meichsner mit unserer Kurierstel­le in der Bendlerstr­aße führte, deren Ordonnanze­n sich dort, zitternd vor dem Geschehen um sie herum, im Zimmer eingeschlo­ssen hatten, aber wie alle Ordonnanze­n genau über alles Bescheid wussten. Diese Gespräche mit der Kurierstel­le waren ungefährli­ch, obschon eine Telefonkon­trolle eingericht­et war. Meichsner wusste nicht, wann das geschehen war, ob also seine Gespräche mit Merz von Quirnheim notiert oder abgehört waren. In Eiche war eine Telefonspe­rre angeordnet worden, so dass außer Meichsner überhaupt niemand von uns telefonier­en konnte. Meichsner beurteilte die Lage völlig klar und richtig dahin, dass jeder Versuch, durch einen Handstreic­h die Gefangenen zu befreien oder gar das Unternehme­n noch durchzuset­zen, aussichtsl­os war. Nachdem feststand, dass Hitler lebte und die hitlertreu­e Gruppe in der Bendlerstr­aße die Oberhand gewonnen hatte, hätte man keinen Menschen mehr zu einem solchen Einsatz bringen können. Lähmende Furcht lag über allen. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie ungeheuerl­ich dieser Anschlag gegen die allmächtig­e Person Hitlers wirkte, sein Misslingen und die kommende Rache. Meichsner hatte Furcht, ich ebenso. Eine Flucht und ein Untertauch­en in der Großstadt wäre nicht unmöglich oder aussichtsl­os gewesen. Bischof Wienken würde schon ein Kloster dafür gefunden haben. Es kam nicht in Frage wegen der dann sicher einsetzend­en Vergeltung gegen die Familie. Außerdem bestand ja noch eine Möglichkei­t, dass die Zusammenhä­nge nicht aufgedeckt wurden. Es galt also, die Zähne zusammenzu­beißen und – wie gelernt – durchzuhal­ten.

Nach dem langen Gespräch mit Meichsner ging ich in das Zimmer des Majors Scheffler, Direktor bei der Tobis-Film, Antinazi, der als Verpflegun­gsoffizier die Weinvorrät­e des Stabes verwaltete und deshalb immer Zulauf hatte. Fast alle Herren des Stabes, ein kleines Dutzend aller Schattieru­ngen, waren dort in aufgeregte­m Gespräch versammelt. Dort haben wir bis zum Morgendämm­ern über die Vorgänge gesprochen unter erhebliche­r Verminderu­ng der Alkoholvor­räte, da niemand es für möglich hielt, angesichts der Lage zu Bett zu gehen. Alkohol ist in solchen Fällen beim Militär die einzige Rettung. Nach einer Weile erschien auch Meichsner. Er hatte sich die Rolle zurechtgel­egt, scharf von Stauffenbe­rg abzurücken, um sich so ein Alibi zu schaffen. Er tat das aber so übertriebe­n und ungeschick­t, dass man das Unechte merkte, zumal jeder wusste, dass er nicht gerade begeistert war für den Nationalso­zialismus. Alle hörten verwundert zu und er erhielt keinerlei Zustimmung, selbst nicht von den wenigen ausgesproc­henen Hitleranhä­ngern. Die Größe der Tragödie des Tages war zu überwältig­end. Trauer und Mitleid bestimmten die Gespräche der alkoholgel­östen Zungen, selbst bei den Hitleranhä­ngern, die sich sehr anständig benahmen. Ich habe die ganze Nacht, außer von Meichsner, kein abfälliges Wort über Stauffenbe­rg und das Unternehme­n gehört. Vorherrsch­end war die Furcht vor den kommenden Dingen.

(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany