Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wir haben 2019, nicht 1932

Wie der NS-Vergleich ist der Weimar-Verweis untauglich für die politische Debatte.

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Lieber einen Freund verlieren als eine Pointe, mag sich Twitter-Nutzer „Rainerschu­nd“gedacht haben, als er neulich Folgendes absetzte: „Zeitzonen finde ich total spannend. In Berlin ist es jetzt 20.20 Uhr. In New York ist es 14.20 Uhr. Und in Teilen Sachsens ist es 1933.“Lief ganz gut – trotz, vermutlich aber: wegen der groben Übertreibu­ng und Diffamieru­ng. Natürlich steht Sachsen nicht an der Schwelle zur Diktatur. Etwas anders, aber ähnlich liegt der Fall bei drei Politikern: Malu Dreyer (SPD), Armin Laschet (CDU), Peter Tauber (CDU). Alle drei zitierten in letzter Zeit (Dreyer und Tauber nach dem Mord an Walter Lübcke, Laschet

2018 nach Chemnitz) Reichskanz­ler Joseph Wirth vom Zentrum. Der hatte 1922 nach dem Mord am jüdischen Außenminis­ter Walter Rathenau gesagt: „Dieser Feind steht rechts!“Auch hier sind Empörung und Erschrecke­n natürlich richtig und ehrenwert; in der Tat gibt es rechts Verfassung­sfeinde, auch gewaltbere­ite – bloß: Der Verweis auf Weimar als Mittel der Politik ist zwar gut gemeint, aber damit eher das Gegenteil von gut gemacht. Weil dabei zwangsläuf­ig das Ende mitschwing­t: Hitler, Krieg, Holocaust. Wie aber schon Bonn nicht Weimar war, ist Berlin nicht Weimar, und wir haben 2019, nicht 1932. Ja, die Kommunikat­ion ist verroht, vor allem rechts; heute sagen Parlamenta­rier Dinge, die vor Jahren unvorstell­bar waren. Aber es gibt keine breite staatsfein­dliche Rechte, anders als in der Weimarer Republik. Im Gegenteil: Ihre Demokratie ist den meisten Deutschen mittlerwei­le gottlob eine Herzenssac­he. Wie der NS-Vergleich ist der Weimar-Verweis untauglich für den politische­n Diskurs. Man kann das Wirken der AfD und der Rechtsextr­emisten als das bezeichnen, was es ist, nämlich als menschenfe­indlich, als Schande und Niedertrac­ht, ohne das ganz große Besteck auszupacke­n.

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