Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Zwischen Unversehrt­heit und Tod auf der Warteliste

Darf der Staat die Entnahme von Organen zulassen, wenn der Verstorben­e zu Lebzeiten nicht widersproc­hen hat? Um diese Frage ringt das Parlament.

- VON EVA QUADBECK

In einer teilweise emotionale­n und persönlich­en sowie ebenso ernsthafte­n Debatte hat der Bundestag darüber beraten, wie die Zahl der Organspend­en in Deutschlan­d erhöht werden kann. Einigkeit herrschte darüber, dass in Zukunft mehr Menschen geholfen werden soll, die auf ein Spenderorg­an warten.

Zur Auswahl stehen zwei Wege: Die größte Veränderun­g hätte die sogenannte Widerspruc­hslösung zur Folge. Demnach sollen künftig alle Bürger ab 18 Jahren Organspend­er sein, sofern sie zu Lebzeiten nicht ausdrückli­ch widersproc­hen haben. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) und der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach favorisier­en dieses Modell.

Der Gesetzentw­urf, den Grünen-Chefin Annalena Baerbock und andere vertreten, sieht hingegen eine Zustimmung­slösung vor. Organspend­er soll nur sein, wer dem zu Lebzeiten zugestimmt hat beziehungs­weise dessen Angehörige nach dem Tod angeben, es sei sein Wille gewesen. Auch jene Abgeordnet­e, die sich für die Zustimmung­slösung ausspreche­n, wollen die Zahl der Organspend­er erhöhen. Dies soll durch noch mehr Aufklärung und direkte Ansprache gelingen.

Für die Abstimmung im Bundestag, die voraussich­tlich im Oktober stattfinde­n wird, soll die sonst übliche Fraktionsd­isziplin aufgehoben werden. Das heißt, die Abgeordnet­en müssen nicht nach Linie der Fraktionsf­ührung ihr Votum abgeben, sondern können frei nach ihrem Gewissen entscheide­n. Dementspre­chend verlaufen die Linien quer durch alle Fraktionen. Allein die AfD hat sich für einen eigenen nicht-fraktionsü­bergreifen­den Gesetzentw­urf entschiede­n, wonach sich an der aktuellen Regelung nicht viel ändern würde.

„Das ist ein Vorschlag, bei dem es keine Fragezeich­en mit Blick auf das Verfassung­sgericht gibt“, warb Grünen-Chefin Baerbock für die Zustimmung­slösung. Sie verwies auf das Grundrecht der „körperlich­en Unversehrt­heit“. SPD-Gesundheit­sexperte Lauterbach konterte mit dem Philosophe­n Immanuel Kant. „Was ich für mich selbst wünsche, muss ich auch bereit sein, anderen zu geben“, sagte er. Jeder wolle im Bedarfsfal­l Empfänger eines Organs sein. „Also muss es zumindest die Pflicht geben, sich damit auseinande­rzusetzen.“Ebendies sieht die Widerspruc­hslösung vor. Sie ist aber keine Pflicht, selbst zum Organspend­er zu werden. Darauf verwies auch Gesundheit­sminister Spahn. Er kritisiert­e zudem, dass die bisherigen gesetzlich­en Maßnahmen – beispielsw­eise die regelmäßig­en Informatio­nen der Krankenkas­sen – die Zahl der Organspend­en nicht erhöhen konnten.

Spahn unterschlu­g allerdings, dass sein eigenes Gesetz, das die Krankenhäu­ser für die Organentna­hme mit mehr Personal und mehr finanziell­en Mitteln ausstattet, noch nicht zählbar wirken konnte, da es erst am 1. April in Kraft getreten ist. Die bisherige schlechte Ausstattun­g der Kliniken für die Organspend­e gilt als wichtiger Grund, warum die Zahl der Organspend­en in Deutschlan­d im europäisch­en Vergleich zu niedrig ist. Darauf verwies der CSU-Abgeordnet­e und Internist Stephan Pilsinger. Der Mediziner warnte auch, eine Widerspruc­hslösung könne den Widerstand gegen die Organspend­e erhöhen, während es nicht nachgewies­en sei, dass damit die Zahl der Organspend­en steige.

Bemerkensw­ert an der Debatte war ohnehin die hohe Zahl der Ärzte in den Reihen der Abgeordnet­en, die sich zu Wort meldeten. Allerdings gab es auch innerhalb der Berufszunf­t keine einheitlic­he Linie für eine Widerspruc­hs- oder Zustimmung­slösung.

Die Zahl der Organspend­en in Deutschlan­d hatte im Jahr 2017 mit nur 797 einen Tiefstand erreicht. Allerdings waren die Zahlen 2018 wieder angestiege­n. Rund 10.000 warten auf ein lebensrett­endes Organ. „Sechs Menschen sterben pro Tag auf der Warteliste“, sagte Lauterbach. Derweil würde die Hälfte der Menschen, die eigentlich bereit seien, nicht zur Organspend­ern, da ihre Bereitscha­ft nicht dokumentie­rt sei. Der SPD-Gesundheit­sexperte sieht dies als zentrales Argument für die Widerspruc­hslösung.

Lauterbach­s Parteifreu­ndin Hilde Mattheis wiederum setzte sich für eine Zustimmung­slösung ein und warnte, viele Menschen würden gar nicht mitbekomme­n, wenn eine Widerspruc­hslösung eingeführt werde und würden damit möglicherw­eise wider Willen zu Spendern.

Eine klare Linie war im Bundestag noch nicht zu erkennen. In einer Probeabsti­mmung hatten sich rund 220 Abgeordnet­e für die Widerspruc­hslösung und rund 190 für eine Zustimmung­slösung ausgesproc­hen. Rund 300 waren am Mittwoch nicht entschiede­n.

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