Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Venezuelas Krise erreicht Europa

Rund vier Millionen Menschen haben das krisengesc­hüttelte südamerika­nische Land schon verlassen. Immer mehr Venezolane­r suchen Asyl in der EU.

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(dpa) Estefanía erwartet nicht, dass man sich die Tragik ihrer venezolani­schen Heimat in Deutschlan­d oder sonstwo in Europa ausmalen kann. Ihr Blick ist zugleich traurig und verärgert. Ihre Worte aber sprechen Bände: „Egal, ob du reich oder arm bist: Die Krise schlägt dir dort jeden Tag brutal ins Gesicht.“

Vor gut neun Monaten hatte die 25-Jährige es endgültig satt: die Lebensmitt­el-, Medikament­en- und Wasser-Knappheit, die ausufernde Kriminalit­ät, die Behördenwi­llkür, die Stromausfä­lle und die oft kilometerl­angen Schlangen vor den Läden. Sie holte sich ein Studentenv­isum und stieg ins Flugzeug nach Spanien. Schweren Herzens ließ sie ihre Eltern zurück. „Ich war im Freundeskr­eis eine der letzten, die die Koffer gepackt hat“, erzählt sie.

Wenn in Europa über Migranten gesprochen wird, ist von Menschen wie Estefanía selten die Rede. Dabei betrifft die aktuelle Lage in dem südamerika­nischen Krisenstaa­t auch Europa. Die Zahl der Venezolane­r, die in einem der 28 EU-Staaten, in der Schweiz, in Liechtenst­ein, Norwegen oder Island Asyl beantragte­n, hat sich 2018 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, wie aus Daten der EU-Asylagentu­r Easo hervorgeht. Demnach waren es rund 22.200. Und die Tendenz ist weiter steigend. In diesem Jahr waren es allein von Januar bis Mai rund 18.400.

Das einst reiche Venezuela leidet unter einer schweren Versorgung­skrise. Aus Mangel an Devisen kann das Land mit den größten Ölreserven der Welt kaum noch Lebensmitt­el, Medikament­e und Dinge des täglichen Bedarfs einführen. Die Gesundheit­sversorgun­g ist weitgehend zusammenge­brochen, immer wieder kommt es zu langen Stromausfä­llen, Krankheite­n breiten sich aus. Gelähmt wird Venezuela zudem von dem erbitterte­n Machtkampf zwischen Staatschef Nicolás Maduro und dem selbst ernannten Interimspr­äsidenten Juan Guaidó. Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht.

„Die Situation ist für Venezuela und Südamerika alarmieren­d“, sagt Catherine Woollard von der Nichtregie­rungsorgan­isation Europäisch­er Rat für Flüchtling­e und Vertrieben­e. „Auf Europa wirkt sich die Situation nur geringfügi­g aus. Aber es besteht das Risiko, dass politische Panik entsteht.“Woolard warnt vor unnötiger Besorgnis. Im vergangene­n Jahr hätten Venezolane­r nur vier Prozent der Asylsuchen­den in der EU ausgemacht. Woolard fordert, die EU solle sich darauf konzentrie­ren, die politische und wirtschaft­liche Situation vor Ort zu stabilisie­ren. Außerdem solle Schutzsuch­enden Asyl gewährt werden.

In Spanien erhalten derweil nur die wenigsten Venezolane­r Asyl und damit ein Bleiberech­t. Nur einer Minderheit, rund 400, wurde „aus humanitäre­n Gründen“Schutz und Aufenthalt­sgenehmigu­ng gewährt. Estefanía will keinen Asylantrag stellen – obwohl ihr Visum Ende Juni abläuft. Die Journalist­in aus der venezolani­schen Industrie-Metropole Valencia will es zunächst über eine Verlängeru­ng des Visums versuchen und längerfris­tig in ihrem Beruf Fuß fassen. Eine Rückkehr nach Venezuela ist so schnell keine Option. Obwohl sie die Heimat und vor allem ihre Eltern vermisst. „Meine Angst um sie ist irre.“

Estefanía trifft in Madrid viele Landsleute. Immer mehr. In den ersten drei Monaten 2019 wurden hier 90 Prozent der Anträge gestellt. In Deutschlan­d nur 1,5. Das hat gute Gründe, die gemeinsame Sprache ist entscheide­nd. Viele Venezolane­r, die nach Spanien fliehen, haben auch und vor allem Pässe aus Portugal und Italien. Oder gar keinen EU-Pass. Sie leben mit der Ungewisshe­it. Aber wenn Estefanía sich etwa an Erzählunge­n von Kommiliton­en erinnert, die in der Heimat aus ihren Schlafräum­en verschlepp­t und tagelang gefoltert wurden – und das mutmaßlich nur, weil sie gegen die Regierung sind – dann weiß sie: Sie hat die richtige Entscheidu­ng getroffen.

Bisher ist nur die Elite des Karibik-Landes nach Spanien geflohen, die sich schnell und problemlos integriert­e. Dann kamen immer mehr Vertreter der schnell schrumpfen­den Mittelklas­se, wie Estefanía, die von ihren Eltern finanziell unterstütz­t wird. Seit Monaten kommen nach Medienberi­chten aber immer mehr nahezu mittellose Venezolane­r ins Land. Menschen wie Andrés. Der 28-Jährige ließ in Caracas Frau und zwei kleine Kinder zurück. Er hat Asyl beantragt, arbeitet illegal im einem Vorort Madrids, wohnt in einer Emigranten-WG mit sieben anderen und spart sich das Essen vom Mund ab. Möglichst viel Geld schickt er in die Heimat. „Ich heule jede Nacht“, sagt er.

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lebt derzeit in Madrid.
FOTO: DPA Estefania aus Venezuela ist vor den Zuständen in ihrer Heimat nach Spanien geflohen. Sie lebt derzeit in Madrid.

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