Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Als der Wagen nicht kam
Alle fühlten irgendwie, dass an diesem Tage eine geschichtliche Tat vollbracht worden war. Die Tat war misslungen. Das genügt bei erfolgsgläubigem Massendenken, um sie zu verurteilen, sie zu verkleinern, oder sie unbeachtet zu lassen. Alle Mitläufer können heute zudem sagen: „Seht ihr wohl, wie unmöglich ein Widerstand war, es war Wahnwitz.“Wäre der Handstreich aussichtslos gewesen, so würde man ihn als unsittlich verurteilen müssen, denn die erste Voraussetzung für die Rechtfertigung gewaltsamen Widerstands gegen den Staat ist eine verständige Aussicht auf Gelingen. Diese war mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Bei Hitlers Tod wäre der Anschlag gelungen, wie der Ablauf in Paris zwingend beweist, wo Stülpnagel binnen zwei Stunden ohne einen Schuss und ohne einen Toten das gesamte SS- und Gestapogelichter hinter Schloss und Riegel hatte. Auch das schwankende Verhalten Remers zeigt, dass er bei Hitlers Tod sich nicht entgegengestellt hätte. Ähnlich war es bei der Gruppe v. d. Heydt in der Bendlerstraße, und die Haltung des Generals Fromm liegt auf derselben Linie. All die andern Zaudergeneräle würden sich lauthals auf die Seite Becks geschlagen haben, wenn der Tod Hitlers festgestanden hätte. Die Vorbereitung des Anschlags durch Stauffenberg war unter den gegebenen Verhältnissen bestens geplant. Jeder, der die damalige Zeit miterlebt hat, weiß, dass die vorherige Einbeziehung eines größeren Kreises von Offizieren der Geheimhaltung wegen unmöglich war.
Deshalb musste ja die Schockwirkung von Hitlers Tod zur Grundlage
gemacht werden. Die Planung der Bereitstellung der Truppen, die dann durch die Autorität Becks mitgerissen worden wären, war meisterlich. Die ganze geistige Überlegenheit Stauffenbergs leuchtet darin auf, wie der Diktator dazu gebracht wurde, mit der Unterschrift des Walkürebefehls seinen eigenen Sturz zu verfügen, ein militärisches und politisches Kabinettstück von einzigartigem Witz. Das schwache Glied in der Kette war der Umstand, dass derselbe Stauffenberg, der Hitler töten wollte, gleichzeitig als Chef des Stabes in der Bendlerstraße das Unternehmen leiten musste. Letzteres war nötig, weil er als Stabschef des Generals Fromm die militärischen Befehlsmittel in der Hand hatte, Ersteres, da sich niemand sonst fand, der die Tat in der Wolfsschanze auf sich genommen hätte.
Kürzlich gab der General Heusinger ein Fernsehinterview (Januar 1962), in dem er sagte, er habe von dem Unternehmen gewusst, und als Stauffenberg bei der Lagebesprechung die Aktentasche mit der Bombe darin hingestellt habe, sei ihm klar gewesen, was kommen würde. Angesichts dieser großen Kaltblütigkeit, die erforderlich ist, um in Ruhe neben einer gestochenen Bombe stehen zu bleiben, ist es erstaunlich, weshalb er dann nicht die Ausführung übernommen hat an Stelle des körperlich so behinderten und in Berlin so nötigen Stauffenberg. Sittliche Bedenken können Heusinger nicht gehindert haben, denn es besteht kein Unterschied in der Verantwortung zwischen dem, der die Bombe zündet, und dem, der die gezündete Bombe ruhig zur Explosion kommen lässt. Es wird wohl mit den Generalstabsoffizieren des Führerhauptquartiers ähnlich gewesen sein wie bei den Generalen – typisch Kluge, oder Falkenhausen und auch Rommel –, die zwar den Erfolg wünschten, aber nicht dessen Risiko tragen wollten. Bombenwerfen gilt als undeutsch und wird, seit Bomben geworfen werden, als eine Tätigkeit angesehen, die Russen, Balkanvölkern und den Anwohnern des Mittelmeeres wesenseigentümlich sei, während Germanen zur Erreichung desselben Ergebnisses stechen oder schießen müssten. Für Stauffenberg blieb aber nur die Bombe einschließlich der Gefährdung der Unbeteiligten, denn mit drei Fingern und gemindertem Sehvermögen kann man weder stechen noch schießen. Es zeugt von einem unerhört hohen Maß von Kaltblütigkeit, Willenskraft und körperlicher Geschicklichkeit, mit drei Fingern eine Aktentasche zu öffnen, eine Bombe zu stechen und die Tasche wieder zu schließen. All das hat Stauffenberg neben dem Tragen des Planes und der sittlichen Verantwortung vollbracht. Nicht durch sein Versagen geschah es, dass die Lagebesprechung nicht in dem druckfangenden Betonbunker, sondern in der leichten, dem Explosionsdruck nachgebenden Baracke stattfand; nicht seine Schuld war es, dass Hitler unvorhergesehen seinen Platz neben der Bombe verließ. Stauffenberg hat mit seinem Abflug nach Berlin bedachtsam gewartet, bis er gehört hatte, dass die Bombe explodiert war, die nach menschlichem Urteilsvermögen Hitler hätte töten müssen.
Weshalb Gottes Ratschluss anders wollte, entzieht sich der unzulänglichen menschlichen Deutung. Vielleicht musste das deutsche Volk erst mehr zur Schulderkenntnis, Reue und gutem Vorsatz gebracht werden durch den nun einsetzenden völligen Ruin, denn nach dem 20. Juli folgten noch ungezählte Scharen von Toten, Verwundeten und Vertriebenen und die hauptsächlichen Zerstörungen aus der Luft. Auch die außenpolitischen Folgen des Zusammenbruchs wären beim Gelingen des Unternehmens wahrscheinlich weniger furchtbar gewesen. Statt des von Hitler ernannten Admirals Dönitz hätte eine für das Ausland vertrauenswürdige Regierung dagestanden, die man nicht einfach hätte ignorieren können. Auch für diese Regierung wäre die bedingungslose Übergabe eine unvermeidliche Tatsache gewesen, aber Form und Auswirkung derselben wären doch wohl nicht so vernichtend geworden, allein schon aus folgendem Grunde. Der Plan ging dahin, sofort nach Beseitigung Hitlers die Truppen an den westlichen Fronten ohne weiteres auf die Reichsgrenzen zurückzuziehen, sie an die Ostfront zu transportieren und diese so lange zu halten, bis die westlichen Alliierten Deutschland besetzt hätten. Dieser Lockung würden sie wohl nicht widerstanden haben. Yalta hin, Yalta her! In der Politik kommt es zunächst auf Tatsachen an, und Churchill hätte diese vielleicht zu nutzen verstanden, so dass die ganze Geschichte nach 1945 nicht die katastrophale Entwicklung genommen hätte, die dann folgte. Das Handeln Stauffenbergs war also kein auf Hirngespinste einiger Idealisten gegründetes Abenteuer, sondern ein wohlbedachtes und bestmöglich vorbereitetes Unternehmen mit realen Erfolgsaussichten.
(Fortsetzung folgt)
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