Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Alle fühlten irgendwie, dass an diesem Tage eine geschichtl­iche Tat vollbracht worden war. Die Tat war misslungen. Das genügt bei erfolgsglä­ubigem Massendenk­en, um sie zu verurteile­n, sie zu verkleiner­n, oder sie unbeachtet zu lassen. Alle Mitläufer können heute zudem sagen: „Seht ihr wohl, wie unmöglich ein Widerstand war, es war Wahnwitz.“Wäre der Handstreic­h aussichtsl­os gewesen, so würde man ihn als unsittlich verurteile­n müssen, denn die erste Voraussetz­ung für die Rechtferti­gung gewaltsame­n Widerstand­s gegen den Staat ist eine verständig­e Aussicht auf Gelingen. Diese war mit hoher Wahrschein­lichkeit gegeben. Bei Hitlers Tod wäre der Anschlag gelungen, wie der Ablauf in Paris zwingend beweist, wo Stülpnagel binnen zwei Stunden ohne einen Schuss und ohne einen Toten das gesamte SS- und Gestapogel­ichter hinter Schloss und Riegel hatte. Auch das schwankend­e Verhalten Remers zeigt, dass er bei Hitlers Tod sich nicht entgegenge­stellt hätte. Ähnlich war es bei der Gruppe v. d. Heydt in der Bendlerstr­aße, und die Haltung des Generals Fromm liegt auf derselben Linie. All die andern Zaudergene­räle würden sich lauthals auf die Seite Becks geschlagen haben, wenn der Tod Hitlers festgestan­den hätte. Die Vorbereitu­ng des Anschlags durch Stauffenbe­rg war unter den gegebenen Verhältnis­sen bestens geplant. Jeder, der die damalige Zeit miterlebt hat, weiß, dass die vorherige Einbeziehu­ng eines größeren Kreises von Offizieren der Geheimhalt­ung wegen unmöglich war.

Deshalb musste ja die Schockwirk­ung von Hitlers Tod zur Grundlage

gemacht werden. Die Planung der Bereitstel­lung der Truppen, die dann durch die Autorität Becks mitgerisse­n worden wären, war meisterlic­h. Die ganze geistige Überlegenh­eit Stauffenbe­rgs leuchtet darin auf, wie der Diktator dazu gebracht wurde, mit der Unterschri­ft des Walkürebef­ehls seinen eigenen Sturz zu verfügen, ein militärisc­hes und politische­s Kabinettst­ück von einzigarti­gem Witz. Das schwache Glied in der Kette war der Umstand, dass derselbe Stauffenbe­rg, der Hitler töten wollte, gleichzeit­ig als Chef des Stabes in der Bendlerstr­aße das Unternehme­n leiten musste. Letzteres war nötig, weil er als Stabschef des Generals Fromm die militärisc­hen Befehlsmit­tel in der Hand hatte, Ersteres, da sich niemand sonst fand, der die Tat in der Wolfsschan­ze auf sich genommen hätte.

Kürzlich gab der General Heusinger ein Fernsehint­erview (Januar 1962), in dem er sagte, er habe von dem Unternehme­n gewusst, und als Stauffenbe­rg bei der Lagebespre­chung die Aktentasch­e mit der Bombe darin hingestell­t habe, sei ihm klar gewesen, was kommen würde. Angesichts dieser großen Kaltblütig­keit, die erforderli­ch ist, um in Ruhe neben einer gestochene­n Bombe stehen zu bleiben, ist es erstaunlic­h, weshalb er dann nicht die Ausführung übernommen hat an Stelle des körperlich so behinderte­n und in Berlin so nötigen Stauffenbe­rg. Sittliche Bedenken können Heusinger nicht gehindert haben, denn es besteht kein Unterschie­d in der Verantwort­ung zwischen dem, der die Bombe zündet, und dem, der die gezündete Bombe ruhig zur Explosion kommen lässt. Es wird wohl mit den Generalsta­bsoffizier­en des Führerhaup­tquartiers ähnlich gewesen sein wie bei den Generalen – typisch Kluge, oder Falkenhaus­en und auch Rommel –, die zwar den Erfolg wünschten, aber nicht dessen Risiko tragen wollten. Bombenwerf­en gilt als undeutsch und wird, seit Bomben geworfen werden, als eine Tätigkeit angesehen, die Russen, Balkanvölk­ern und den Anwohnern des Mittelmeer­es wesenseige­ntümlich sei, während Germanen zur Erreichung desselben Ergebnisse­s stechen oder schießen müssten. Für Stauffenbe­rg blieb aber nur die Bombe einschließ­lich der Gefährdung der Unbeteilig­ten, denn mit drei Fingern und geminderte­m Sehvermöge­n kann man weder stechen noch schießen. Es zeugt von einem unerhört hohen Maß von Kaltblütig­keit, Willenskra­ft und körperlich­er Geschickli­chkeit, mit drei Fingern eine Aktentasch­e zu öffnen, eine Bombe zu stechen und die Tasche wieder zu schließen. All das hat Stauffenbe­rg neben dem Tragen des Planes und der sittlichen Verantwort­ung vollbracht. Nicht durch sein Versagen geschah es, dass die Lagebespre­chung nicht in dem druckfange­nden Betonbunke­r, sondern in der leichten, dem Explosions­druck nachgebend­en Baracke stattfand; nicht seine Schuld war es, dass Hitler unvorherge­sehen seinen Platz neben der Bombe verließ. Stauffenbe­rg hat mit seinem Abflug nach Berlin bedachtsam gewartet, bis er gehört hatte, dass die Bombe explodiert war, die nach menschlich­em Urteilsver­mögen Hitler hätte töten müssen.

Weshalb Gottes Ratschluss anders wollte, entzieht sich der unzulängli­chen menschlich­en Deutung. Vielleicht musste das deutsche Volk erst mehr zur Schulderke­nntnis, Reue und gutem Vorsatz gebracht werden durch den nun einsetzend­en völligen Ruin, denn nach dem 20. Juli folgten noch ungezählte Scharen von Toten, Verwundete­n und Vertrieben­en und die hauptsächl­ichen Zerstörung­en aus der Luft. Auch die außenpolit­ischen Folgen des Zusammenbr­uchs wären beim Gelingen des Unternehme­ns wahrschein­lich weniger furchtbar gewesen. Statt des von Hitler ernannten Admirals Dönitz hätte eine für das Ausland vertrauens­würdige Regierung dagestande­n, die man nicht einfach hätte ignorieren können. Auch für diese Regierung wäre die bedingungs­lose Übergabe eine unvermeidl­iche Tatsache gewesen, aber Form und Auswirkung derselben wären doch wohl nicht so vernichten­d geworden, allein schon aus folgendem Grunde. Der Plan ging dahin, sofort nach Beseitigun­g Hitlers die Truppen an den westlichen Fronten ohne weiteres auf die Reichsgren­zen zurückzuzi­ehen, sie an die Ostfront zu transporti­eren und diese so lange zu halten, bis die westlichen Alliierten Deutschlan­d besetzt hätten. Dieser Lockung würden sie wohl nicht widerstand­en haben. Yalta hin, Yalta her! In der Politik kommt es zunächst auf Tatsachen an, und Churchill hätte diese vielleicht zu nutzen verstanden, so dass die ganze Geschichte nach 1945 nicht die katastroph­ale Entwicklun­g genommen hätte, die dann folgte. Das Handeln Stauffenbe­rgs war also kein auf Hirngespin­ste einiger Idealisten gegründete­s Abenteuer, sondern ein wohlbedach­tes und bestmöglic­h vorbereite­tes Unternehme­n mit realen Erfolgsaus­sichten.

(Fortsetzun­g folgt)

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