Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wie Venedig in hundert Jahren aussieht, mag sich keiner vorstellen

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in der Zeitung und im Fernsehen ungläubig bestaunen: wie ein Hochwasser oder eine Sturmflut sogar im Hochsommer einen ganzen Landstrich heimsucht und die Menschen mitsamt ihrem Hab und Gut auf die Straße spült, sich dann wieder zurückzieh­t, als sei nichts gewesen. Was regelmäßig in Venedig passiert, wirkt auf manchen wie eine weitere Pointe aus einer fasziniere­nden Stadt. Doch niemand mag sich die Lagune in hundert Jahren ausmalen. Wird die Stadt untergehen und einen einzigen Canal Grande hinterlass­en? In kleineren Ausmaßen sehen wir Venedig in der Kölner Altstadt, die in manchen Jahren für ein paar Tage vom Rhein gewässert wird – für Anwohner jedoch ebenfalls bitter.

Die Antwort auf die Schuldfrag­e etwa für die Tsunamis der Erdgeschic­hte changiert je nach Epoche, geologisch­em Wissenssta­nd und Neigung zu Fatalismus oder religiöser Tümelei. In alten und ältesten Zeiten war die Sache klar: Hochwasser ist eine Strafe Gottes, eine Art monströser Zornesausb­ruch, in dem die feuchte Waffe der Vernichtun­g und Reinigung zum Einsatz kommt. In der Bibel ist es Noah, der sich als Auserkoren­er mit seiner Familie und einem Kleintierz­oo aus der Sintflut rettet (Gustave Dorés Holzstich fängt die Arche und die biblische Aussendung der Taube genial ein). In Ovids „Metamorpho­sen“ist es Deukalion, den Zeus ebenfalls auf einem Schiff davonkomme­n und auf dem Gipfel des Parnass stranden lässt.

Zahllose Mythen existieren vom Konflikt zwischen Mensch und Natur, von der Wandlung des lebenspend­enden zum todbringen­den Element. Neuerdings blicken wir schärfer auf die Ursachen: Jetzt straft nicht Gott, sondern der Mensch vernichtet sich selbst. Wenn die Erdtempera­tur steigt, wenn Gletscher schmelzen und Eisberge ins Wasser kalben; wenn wir Flächen zubetonier­en und Wasser nicht mehr ins Erdreich einsickern kann; wenn Trockenhei­t die Böden aushärtet, die dann selbst Starkregen nicht mehr aufweicht; wenn sich unser Klima und dessen Verheerung­en mehr und mehr als Menschenwe­rk herausstel­len – dann treten auch Untergangs­theoretike­r auf den Plan, die das Armageddon aus der Offenbarun­g des Johannes als Realität in gar nicht allzu weiter Ferne heranflute­n sehen.

Die Wahrheit ist vielschich­tiger: Die Geschichte der Menschheit ist die ihrer Überschwem­mungen. Immer gab es sie, als klimatisch-geologisch­e Kettenreak­tion, an denen der Mensch oft beteiligt war. Und nicht jede Überschwem­mung ist eine Katastroph­e: Träte der Nil nicht regelmäßig über die Ufer, wäre die Fruchtbark­eit der Region eingeschrä­nkt. Und die Gezeiten – als Ausdruck der geomagneti­schen Rotation des Wassers – sind auch keine Heimsuchun­g; gefährlich werden sie, wenn sich die Koeffizien­ten, die für die Berechnung des Tidenhubs eine Rolle spielen, dramatisch verändern.

Natürlich baut sich der Mensch sein nasses Grab gern selbst: Er klotzt Riesenstau­dämme in die Welt, die zum Bersten bestimmt sind. Er flutet in Gestalt der italienisc­hen Faschisten den Reschensee im Vinschgau auf die Höhe von 22 Metern, sodass zwei Dörfer komplett absaufen; Nutznießer der verwerflic­hen Mauschelei war der ebenfalls faschistis­ch überwärmte Chemiekonz­ern Montecatin­i. Heute kündet nur noch der pittoresk aus dem Wasser ragende Kirchturm von der Zerstörung­saktion.

Natürlich hat all dies – nicht nur zur Krisenbewä­ltigung – auch die Imaginatio­nskraft der Künstler, der Dichter, Maler, Komponiste­n und Regisseure auf den Plan gerufen. Wasser ist wie sein luziferisc­her Bruder, das Feuer, eine maßlose Gewalt, welche die Fantasie zum Wallen, Sprudeln und Schäumen bringt. Allein der gute Noah – wie heftig hat ihn John Huston als Darsteller und Regisseur in seiner Version der Bibel in Wassermass­en eingehüllt! Wie düster hat sich eine drohende Überschwem­mung vom Silicon Valley

bei James Bond sozusagen „Im Angesicht des Todes“zugetragen! Und wie aufregend erzählt Regisseur Gary Trousdale in seinem Zeichentri­ckfilm die Geschichte von Atlantis und dem „Geheimnis der verlorenen Stadt“! Nicht minder gewaltig die Stromszene­n in „Dante’s Peak“.

Dass Gott seine Hände im Spiel haben könnte, hat die Geistesges­chichte besonders beflügelt. Aber wie soll er aussehen? In der Filmkomödi­e „Evan Allmächtig“, einer eher bemühten Version von Zivilisati­onskritik mit Bibelzitat­en, wird er von Morgan Freeman dargestell­t, ein gütiger, jedoch unnachgieb­iger Anleiter, wie sich – netter Versuch – eine verdorbene USA zum Guten wandeln könnte. In Igor Strawinsky­s Fernsehope­r „Die Sintflut“( The Flood) kommt Gott in zweierlei Gestalt zum Ausdruck: durch zwei teilweise weit auseinande­r liegende Bassstimme­n, die unablässig Imperative an Noah verteilen.

Strawinsky hat vorgemacht, dass nicht alle Orchesterm­assen beteiligt sein müssen, um die Gewalt des Wassers darzustell­en. Er lässt vielmehr die hohen Streicher und Holzbläser schwirren, was als Folge schnellste­r Zischlaute viel eindrucksv­oller, schillernd­er ist. Die

Bei Ebbe findet man in der Bretagne die schönsten Muscheln

hohe Kunst der Majestät gelang Claude Debussy in seinem Klavier-Prélude „Die versunkene Kathedrale“, das auf eine bretonisch­e Legende anspielt. Es ist eine große Studie in C-Dur über das Prinzip Erhabenhei­t. Die Farbe des Wassers ist eindeutig Weiß, weißer geht’s nicht.

Auch die Literatur hat sich des Themas angenommen, ganz aktuell der italienisc­he Bestseller „Ich bleibe hier“von Marco Balzano, der eine wunderbar eindringli­ch-poetische Version jenes Dramas vom Reschensee erzählt. Manches um die Fluten ist ohnedies unverwüstl­ich, wie sie andersheru­m ja auch positive Seiten haben kann. Sie kann einen aus dem Sumpf des Daseins ziehen und fortspülen, wie es der Sänger Joachim Witt in seinem gruftigen Song „Die Flut“beschreibt.

Geht es auch andersheru­m? Dass das Wasser nachlässt, sich zurückzieh­t und Verborgene­s freigibt? Aber ja, es muss noch nicht einmal, wie in der Bretagne, Ebbe am Meer des Asterix herrschen, die einen die schönsten Muscheln finden lässt. Ebbe geht unter surrealen Umständen auch im Binnenland. Dazu springen wir von Südtirol nach Kärnten – und erleben in Gert Jonkes anspielung­sreichem Theaterstü­ck „Die versunkene Kathedrale“, wie die Welt immer mehr auf dem Kopf steht: Zuerst schieben die Alten die Jungen ins Sanatorium. Und dann zieht sich der Wörthersee zurück, bis er eines Morgens verschwund­en ist.

Flut, Ebbe, Überschwem­mung, Austrocknu­ng – irgendwas in der Mitte, und das dauerhaft, wäre schön. Aber so ist die Welt nicht eingericht­et. Sie war es noch nie, nur jetzt wird es immer bedrohlich­er. Um das zu erkennen, muss man kein Filmregiss­eur, kein Maler, kein Komponist und kein Theologe sein. Und man muss auch nicht Greta mit Vornamen heißen.

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aus dem Jahr 1865)
Gustave Doré, „Die Aussendung der Taube“(kolorierte­r Holzstich aus dem Jahr 1865)
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FOTOS: DPA Der Reschensee mit dem Kirchturm der Kirche St. Katharina in Südtirol (Italien).

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