Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
WTT musste noch kreativer werden
„Der Sandmann“ist ab 15. August zwei Wochen erst online zu sehen. Karten für neue Spielzeit können gebucht werden.
Der junge Student Nathanael leidet unter Verfolgungswahn. Überall sieht er den Sandmann, der ihm die Augen ausreißen will. Nathanael verliert nach und nach den Blick für die Unterscheidung von Wahrheit und Fiktion, steigert sich so in seine Angst hinein, dass er sich am Ende sogar in sie verliebt. Die Bilder in seinem zerrütteten Geist überschlagen sich bis in den Wahnsinn – und schließlich in den Tod.
„Der Sandmann“heißt das neue Stück des Westdeutschen Tourneetheaters (WTT) nach der Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann. Am 15. August feiert die Bühnenfassung von WTT-Regisseur Thomas Ritzinger Premiere – wegen Corona allerdings erst einmal 14 Tage lang nur online. Ab September soll „Der Sandmann“dann wieder im Studio an der Bismarckstraße gespielt werden – sofern die Lockerungen nicht wieder gestrafft werden. Doch wie inszeniert man eigentlich ein Theaterstück in Coronazeiten? Antwort: natürlich mit Kreativität. Und die gehört beim WTT logischerweise zur Grundausstattung.
„Wir hatten den ,Sandmann‘ ursprünglich mit vier Schauspielern und richtig groß als abendfüllendes Stück für April geplant“, erzählt Björn Lenz, Theaterpädagoge und Schauspieler am WTT. Zwei Wochen probten die vier Darsteller bereits – dann kam die Sendepause. Was also tun, das Stück verwerfen? Das kam für das Team nicht infrage. Zumal der „Der Sandmann“Abiturstoff behandelt und sich daher explizit an Oberstufenschüler richtet. Also setzte sich Regisseur Thomas Ritzinger (37) daheim in Wuppertal an seinen Schreibtisch und entwarf binnen zwei Wochen eine komplett neue Version – unter den gängigen Abstands- und Hygieneregeln. Denn zu viert hätten die Schauspieler das Stück gar nicht proben dürfen.
Nun treffen nur noch Jonas Herkenhoff als Nathanael und Thomas Ritzinger als „Der Sandmann“aufeinander – ohne sich wirklich zu treffen. „Ich musste es so inszenieren, dass wir uns nicht anfassen. Das hat uns vor Herausforderungen gestellt“, gibt Ritzinger zu, der seit 2008 Regisseur am WTT ist. Schließlich geht es beim Schauspiel meist auch um körperliche Nähe. „Wir haben aber Bilder gefunden, die das möglich machen“, sagt Ritzinger. Der gebürtige Österreicher stieß 2005 zunächst als Schauspieler zum WTT-Ensemble, ehe er zusätzlich im Regiestuhl Platz nahm. Derzeit studiert er in Köln zudem Medienmanagement.
Die neue Version halte sich noch mehr ans Hoffmann-Original, sagt der Regisseur. Die Erzählweise habe sich dadurch komplett verändert, die Stimmung sei nun viel ernster. Wo fängt der Wahn an, was ist noch real? Trauma und düstere Selbstfindung – Themen, die aktueller sind denn je. Daher kommen nicht nur ein 16:9-Flatscreen hochkant, sondern auch WhatsApp-Nachrichten und Videos vor – ein Seitenhieb auf die neuen Medien und den Wahn, der im Internet gerade sichtbar wird: wilde Verschwörungstheorien.
In dieser Woche wurde „Der Sandmann“verfilmt, nun schneidet Thomas Ritzinger das Video, ehe es am 15. August auf Youtube Premiere feiert. Die Zuschauer dürfen ihren Eintritt digital als Spende entrichten. Die erste Live-Vorstellung soll dann am 24. September unter den gängigen Abstandsregeln sein. Karten können bereits gebucht werden.
WTT-Intendantin Claudia Sowa hat in den vergangenen Tagen einen coronatauglichen Spielplan entworfen. Am 10. August geht es nach der Sommerpause wieder los. Die Termine sind online. „An das Kinderstück ,Oh wie schön ist Panama‘ mussten wir zum Beispiel noch mal ran. Tiger und Bär dürfen jetzt nicht so sehr kuscheln“, erklärt Lenz. „Ganz optimistisch“habe man auch wieder Vormittagsvorstellungen für Kitas und Grundschulen eingeplant. Auch mit dem „Sandmann“will das WTT nach den Ferien in die Schulen gehen.