Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Wenn Löschfristen Neonazis schützen
Um ein Haar wären die Daten, die die Fahnder auf die Spur des mutmaßlichen Lübcke-Mörders brachten, vernichtet worden. Wachsende Rechtsextremismus-Gefahren werfen Zweifel an den gesetzlichen Vorgaben auf.
Je einfacher es wird, immer mehr persönliche Daten über jeden an jedem Ort zu jeder Zeit zu sammeln, umso wichtiger wird das Recht auf Vergessenwerden. Wer in der Jugend mal über die Stränge schlägt, sollte das nicht sein Leben lang virtuell auf der Stirn tragen müssen. Deshalb hat der Gesetzgeber die Erlaubnis der Sicherheitsbehörden zum Sammeln von personenbezogenen Daten mit strengen Löschfristen gekoppelt. Angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Rechtsextremismus wachsen jedoch die Zweifel, ob der Staat sich selbst immer wieder blind machen muss.
Stephan E. galt beim Verfassungsschutz als „brandgefährlich“. Er steht inzwischen wegen des
Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht. Doch weil er seit 2009 nicht mehr in Erscheinung getreten war, hatte der Verfassungsschutz seine Akte entsprechend den einschlägigen gesetzlichen Vorgaben gesperrt. Sie wäre 2019 beinahe gelöscht worden, wenn sich nicht DNA-Spuren auf der Leiche des Mordopfers gefunden hätten und das BKA auf diese Weise die Verbindung zu E. herstellen konnte. Allerdings: Auch die DNA-Daten standen kurz vor der Löschung. Sind die gesetzlichen Vorgaben also noch zeitgemäß?
Mit dem Personalwechsel an der Spitze des sächsischen Verfassungsschutzes hat der Umgang mit Daten auch eine parlamentarische Dimension bekommen. Der langjährige Amtsinhaber Gordian Meyer-Plath hatte sich beharrlich geweigert, Daten von sächsischen AfD-Abgeordneten zu löschen. Er berief sich auf eine im Verfassungsschutzverbund verabredete Praxis, die öffentlich zugängliche Äußerungen dokumentiert, ohne gegen die Abgeordneten-Immunität zu verstoßen. Das sah seine Fachaufsicht im sächsischen Innenministerium offenbar anders. Sie wurde von Dirk-Martin Christian geleitet. Am Ende des Streits stand die Versetzung von Meyer-Plath ins Tourismus-Ministerium und die Amtsübernahme durch Christian. Das Kontrollgremium des Landtages bemüht sich nun um Aufklärung. Jedenfalls geht es auch hier darum, wie genau der Staat mögliche Gefährdungen für die Demokratie im Blick behalten kann.
Die Gratwanderung zwischen Datenschutz und Gefahrenabwehr ist keine Kleinigkeit. In seinem Volkszählungsurteil hatte das Bundesverfassungsgericht 1983 eine Art neues Grundrecht festgestellt: Jeder habe das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und könne daher grundsätzlich entscheiden, wer welche Angaben über seine Person sammeln dürfe. Karlsruhe wollte einer Entwicklung vorbeugen, die zu einem unerträglichen Überwachungsstaat führen kann.
Muss der Staat deshalb darauf verzichten, so viele Daten wie möglich zusammenzufügen, mit deren Hilfe er rechtzeitig Anzeichen für die Radikalisierung von Menschen mit extremistischen Anschauungen und erwiesener Gewaltbereitschaft erkennen kann? Die Fahndung nach dem Mörder von Lübcke zeigt, welche Lücken sich durch die Löschvorschriften auftun können.
Die Daten von E. gab es noch, weil die Leitung des hessischen Verfassungsschutzes von einer Ausnahmebestimmung Gebrauch gemacht hatte, wonach im Einzelfall die Löschung hinausgezögert werden kann. Zugute kam ihr, dass 2012 das Innenministerium für sämtliche Unterlagen im Zusammenhang mit dem Terror des „Nationalsozialistischen Untergrundes“(NSU) ein Löschmoratorium erlassen hatte. Inzwischen wird darum gerungen, wie lange dieses Moratorium auch für Personen und Vorgänge gelten soll, deren NSU-Bezug sich (noch?) nicht erhärtet hat. Der Bundestag will jedenfalls die für den Untersuchungsausschuss zur Verfügung gestellten Akten erst wieder herausrücken,
Mathias Middelberg Innenexperte der CDU/CSU-Fraktion
wenn das Urteil gegen Beate Zschäpe rechtskräftig geworden ist. Und dann?
„Das NSU-Löschmoratorium muss verlängert werden“, verlangt FDP-Innenexperte Konstantin Kuhle. Gegenwärtig liefen in dieser Sache noch Ermittlungsverfahren und auch eine Strukturüberprüfung beim Generalbundesanwalt. Es sei deshalb nicht absehbar, ob Informationen aus diesen Akten hilfreich sein könnten, um weitere rechtsextremistische Straftäter zu identifizieren und anzuklagen. Zudem wäre eine Löschung ein „fatales Signal für die Hinterbliebenen des Terrors des NSU“.
Zwar wollen die Grünen grundsätzlich an den Löschfristen festhalten. Doch betrachtet auch Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic das Löschmoratorium als „eine Art Notwehrmaßnahme gegen den Versuch von Sicherheitsbehörden, vor allem des Bundesamtes für Verfassungsschutz, ihr Agieren zu vertuschen“. Daher spreche viel dafür, dieses Moratorium fortzusetzten, denn der Mord an Lübcke habe deutlich gezeigt, „dass wir wahrscheinlich bis heute nicht komplett verstanden haben, wie tief der NSU eigentlich organisiert war und dass wir mit dem Trio nur die Spitze der Spitze des Eisberges erkannt haben.“
Unions-Innenexperte Mathias Middelberg weitet die Bedenken gegen die bestehenden zehnjährigen Löschfristen vom Extremismus auf den Kindesmissbrauch: „Der Persönlichkeitsschutz von extremistischen Gewalttätern oder Kinderschändern darf nicht zum Hindernis für die Strafverfolgung werden“, sagt der CDU-Politiker. Der Mordfall Lübcke zeige, dass DNA-Daten von Extremisten auch nach vielen Jahren noch wichtig sein könnten. Seine Folgerung: „DNA-Daten von extremistischen Gewalttätern und Kinderschändern sollten künftig 25 Jahre lang gespeichert werden können.“Die abscheulichen Verbrechen der vergangenen beiden Jahre scheinen also ein Umdenken ausgelöst zu haben. Es ist jedoch nur der Anfang einer wichtigen und bedrückenden Debatte um Persönlichkeitsrechte als Schutz vor Verfolgung.
„Persönlichkeitsschutz
darf nicht zum Hindernis für Strafverfolgung werden“