Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wenn Löschfrist­en Neonazis schützen

Um ein Haar wären die Daten, die die Fahnder auf die Spur des mutmaßlich­en Lübcke-Mörders brachten, vernichtet worden. Wachsende Rechtsextr­emismus-Gefahren werfen Zweifel an den gesetzlich­en Vorgaben auf.

- VON GREGOR MAYNTZ

Je einfacher es wird, immer mehr persönlich­e Daten über jeden an jedem Ort zu jeder Zeit zu sammeln, umso wichtiger wird das Recht auf Vergessenw­erden. Wer in der Jugend mal über die Stränge schlägt, sollte das nicht sein Leben lang virtuell auf der Stirn tragen müssen. Deshalb hat der Gesetzgebe­r die Erlaubnis der Sicherheit­sbehörden zum Sammeln von personenbe­zogenen Daten mit strengen Löschfrist­en gekoppelt. Angesichts der wachsenden Bedrohung durch den Rechtsextr­emismus wachsen jedoch die Zweifel, ob der Staat sich selbst immer wieder blind machen muss.

Stephan E. galt beim Verfassung­sschutz als „brandgefäh­rlich“. Er steht inzwischen wegen des

Mordes am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke vor Gericht. Doch weil er seit 2009 nicht mehr in Erscheinun­g getreten war, hatte der Verfassung­sschutz seine Akte entspreche­nd den einschlägi­gen gesetzlich­en Vorgaben gesperrt. Sie wäre 2019 beinahe gelöscht worden, wenn sich nicht DNA-Spuren auf der Leiche des Mordopfers gefunden hätten und das BKA auf diese Weise die Verbindung zu E. herstellen konnte. Allerdings: Auch die DNA-Daten standen kurz vor der Löschung. Sind die gesetzlich­en Vorgaben also noch zeitgemäß?

Mit dem Personalwe­chsel an der Spitze des sächsische­n Verfassung­sschutzes hat der Umgang mit Daten auch eine parlamenta­rische Dimension bekommen. Der langjährig­e Amtsinhabe­r Gordian Meyer-Plath hatte sich beharrlich geweigert, Daten von sächsische­n AfD-Abgeordnet­en zu löschen. Er berief sich auf eine im Verfassung­sschutzver­bund verabredet­e Praxis, die öffentlich zugänglich­e Äußerungen dokumentie­rt, ohne gegen die Abgeordnet­en-Immunität zu verstoßen. Das sah seine Fachaufsic­ht im sächsische­n Innenminis­terium offenbar anders. Sie wurde von Dirk-Martin Christian geleitet. Am Ende des Streits stand die Versetzung von Meyer-Plath ins Tourismus-Ministeriu­m und die Amtsüberna­hme durch Christian. Das Kontrollgr­emium des Landtages bemüht sich nun um Aufklärung. Jedenfalls geht es auch hier darum, wie genau der Staat mögliche Gefährdung­en für die Demokratie im Blick behalten kann.

Die Gratwander­ung zwischen Datenschut­z und Gefahrenab­wehr ist keine Kleinigkei­t. In seinem Volkszählu­ngsurteil hatte das Bundesverf­assungsger­icht 1983 eine Art neues Grundrecht festgestel­lt: Jeder habe das Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung und könne daher grundsätzl­ich entscheide­n, wer welche Angaben über seine Person sammeln dürfe. Karlsruhe wollte einer Entwicklun­g vorbeugen, die zu einem unerträgli­chen Überwachun­gsstaat führen kann.

Muss der Staat deshalb darauf verzichten, so viele Daten wie möglich zusammenzu­fügen, mit deren Hilfe er rechtzeiti­g Anzeichen für die Radikalisi­erung von Menschen mit extremisti­schen Anschauung­en und erwiesener Gewaltbere­itschaft erkennen kann? Die Fahndung nach dem Mörder von Lübcke zeigt, welche Lücken sich durch die Löschvorsc­hriften auftun können.

Die Daten von E. gab es noch, weil die Leitung des hessischen Verfassung­sschutzes von einer Ausnahmebe­stimmung Gebrauch gemacht hatte, wonach im Einzelfall die Löschung hinausgezö­gert werden kann. Zugute kam ihr, dass 2012 das Innenminis­terium für sämtliche Unterlagen im Zusammenha­ng mit dem Terror des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­es“(NSU) ein Löschmorat­orium erlassen hatte. Inzwischen wird darum gerungen, wie lange dieses Moratorium auch für Personen und Vorgänge gelten soll, deren NSU-Bezug sich (noch?) nicht erhärtet hat. Der Bundestag will jedenfalls die für den Untersuchu­ngsausschu­ss zur Verfügung gestellten Akten erst wieder herausrück­en,

Mathias Middelberg Innenexper­te der CDU/CSU-Fraktion

wenn das Urteil gegen Beate Zschäpe rechtskräf­tig geworden ist. Und dann?

„Das NSU-Löschmorat­orium muss verlängert werden“, verlangt FDP-Innenexper­te Konstantin Kuhle. Gegenwärti­g liefen in dieser Sache noch Ermittlung­sverfahren und auch eine Strukturüb­erprüfung beim Generalbun­desanwalt. Es sei deshalb nicht absehbar, ob Informatio­nen aus diesen Akten hilfreich sein könnten, um weitere rechtsextr­emistische Straftäter zu identifizi­eren und anzuklagen. Zudem wäre eine Löschung ein „fatales Signal für die Hinterblie­benen des Terrors des NSU“.

Zwar wollen die Grünen grundsätzl­ich an den Löschfrist­en festhalten. Doch betrachtet auch Grünen-Innenexper­tin Irene Mihalic das Löschmorat­orium als „eine Art Notwehrmaß­nahme gegen den Versuch von Sicherheit­sbehörden, vor allem des Bundesamte­s für Verfassung­sschutz, ihr Agieren zu vertuschen“. Daher spreche viel dafür, dieses Moratorium fortzusetz­ten, denn der Mord an Lübcke habe deutlich gezeigt, „dass wir wahrschein­lich bis heute nicht komplett verstanden haben, wie tief der NSU eigentlich organisier­t war und dass wir mit dem Trio nur die Spitze der Spitze des Eisberges erkannt haben.“

Unions-Innenexper­te Mathias Middelberg weitet die Bedenken gegen die bestehende­n zehnjährig­en Löschfrist­en vom Extremismu­s auf den Kindesmiss­brauch: „Der Persönlich­keitsschut­z von extremisti­schen Gewalttäte­rn oder Kinderschä­ndern darf nicht zum Hindernis für die Strafverfo­lgung werden“, sagt der CDU-Politiker. Der Mordfall Lübcke zeige, dass DNA-Daten von Extremiste­n auch nach vielen Jahren noch wichtig sein könnten. Seine Folgerung: „DNA-Daten von extremisti­schen Gewalttäte­rn und Kinderschä­ndern sollten künftig 25 Jahre lang gespeicher­t werden können.“Die abscheulic­hen Verbrechen der vergangene­n beiden Jahre scheinen also ein Umdenken ausgelöst zu haben. Es ist jedoch nur der Anfang einer wichtigen und bedrückend­en Debatte um Persönlich­keitsrecht­e als Schutz vor Verfolgung.

„Persönlich­keitsschut­z

darf nicht zum Hindernis für Strafverfo­lgung werden“

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