Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Schon wieder Sachsen
Ganz im Osten der Republik eskaliert das Infektionsgeschehen stärker als anderswo. In den Hotspots ist auch die AfD besonders stark. Doch das allein erklärt noch nicht, warum der Freistaat immer wieder auffällt.
Dunkel, dunkler, Sachsen. Beim Blick auf die Deutschlandkarte mit den nach Infektionsgeschehen eingefärbten Regionen – je intensiver, desto dunkler – springt die besondere Situation des Freistaats im Osten sofort ins Auge. Von den sieben am meisten betroffenen Regionen Deutschlands liegen sechs in Sachsen. Die Inzidenzwerte, die ab 35 Infektionen je 100.000 Einwohner binnen einer Woche kritisch werden und ab 50 Richtung Kontrollverlust weisen, lagen am Freitag in Bautzen bei 668, gefolgt von Regen (646) in Bayern und den sächsischen Landkreisen Görlitz (616), Sächsische Schweiz (589), Zwickau (550), Mittelsachsen (550) und Meißen (528).
Der Kontrollverlust spricht Sächsisch.
Das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena hat die aktuelle Karte mit einer anderen in Zusammenhang gebracht: Mit den Wahlerfolgen der AfD. Deren Parteivorsitzender Tino Chrupalla nennt diesen Vergleich Unsinn. Auch das Institut selbst räumt ein, dass ein einfacher kausaler Zusammenhang aus den Daten nicht herausgelesen werden könne. Dazu sind auch die Bedingungen, unter denen sich das Virus ausbreitet, zu unterschiedlich. Der Skiurlaub in Ischgl und die Karnevalsfeier im Kreis Heinsberg hatten sicherlich nichts mit der AfD zu tun.
Und auch die geografische Lage Sachsens nahe den von Corona hart betroffenen polnischen, tschechischen, brandenburgischen, thüringischen und bayerischen Regionen spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Umkehrschluss lassen sich andere Hotspots wie im Berliner Bezirk Neukölln mitnichten durch hohe AfD-Wähleranteile erklären, wie umgekehrt hohe AfD-Affinitäten in Mecklenburg-Vorpommern lange Zeit parallel liefen mit sehr geringen Infektionszahlen.
Und doch gibt es nicht nur einen Schulterschluss, sondern eine große Schnittmenge zwischen AfD-Politikern, „Querdenkern“und Maskenverweigerern. Mit Reden, Anträgen und Klagen versuchte die AfD, die Maskenpflicht zu torpedieren. Der baden-württembergische AfD-Abgeordnete Thomas Seitz hat dem Zusammenhang von Auftreten und Corona ein Gesicht gegeben. Er ging provozierend mit löchriger, netzartiger „Maske“ans Rednerpult des Bundestages – und liegt nun mit Covid-19 im Krankenhaus.
In Sachsen zeigt sich das wie unter einem Brennglas. Der Freistaat hatte im November bereits eine durch die Pandemie um 46 Prozent über dem langjährigen Durchschnitt liegende Sterblichkeit und lag damit an der Spitze der Bundesländer. Und trotzdem ging das Demonstrationsgeschehen mit tatkräftiger Unterstützung der AfD und ihrer Anhänger weiter. Auffällig ist jedenfalls, dass die sächsischen Corona-Hotspots auch AfD-Hochburgen sind. In Bautzen und Görlitz erhielt die Partei bei der Bundestagswahl je 33 Prozent, in der Sächsischen Schweiz sogar
35. Auch in den anderen Landkreisen bringt es die AfD auf 26 bis 33 Prozent. Und deutlich über dem Bayern-Durchschnitt lag sie bei den Landtagswahlen auch im Landkreis Regen.
Der Landkreis Bautzen hat die Gruppen der an Covid-19 Erkrankten genauer untersucht. Die größte Gruppe stellen danach die 50- bis 59-Jährigen. Laut Wahlstatistik hatte die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen ihren höchsten Stimmenanteil bei den 45- bis 59-Jährigen. Das eine mag das andere nicht zwangsläufig erklären. Die Parallelen sind jedoch auffällig.
Thüringens CDU-Landtagsfraktionschef Mario Voigt unterstreicht jedenfalls den Zusammenhang. Das „ständige Leugnen“des Virus durch die AfD habe dazu geführt, dass die Bürger unvorsichtig geworden seien. Er bezeichnet die AfD auch als „parlamentarischen Arm des Kerns der ,Querdenker’-Bewegung“.
Natürlich ist das Pandemie-Geschehen in erster Linie vom Verhalten der Bevölkerung abhängig. Doch das wird auch geprägt von den Vorgaben der Politik.
Ein Besuch in Dresden ergab noch Ende September erstaunliche Erkenntnisse. Waren die Kneipen und Restaurants im übrigen Bundesgebiet nur mit Mundschutz zu betreten, ergab sich in der sächsischen Hauptstadt ein diffuses Bild: hier das Lokal, in dem Bedienung und Gäste wie selbstverständlich die Maske aufzogen, wenn sie unterwegs waren. Nebenan das Lokal, in dem alle ungeschützt herumliefen, als sei das Virus über Wuhan nie hinausgekommen. „Das ist ja nur eine Empfehlung, muss sich also keiner dran halten“, lautete die Erklärung. Dazu kam die Vorfreude auf die Weihnachtsmärkte, die in Sachsen natürlich stattfinden würden. Inzwischen sieht das – natürlich – anders aus.
Sachsen macht immer wieder Schlagzeilen. Rechtsextremistische Aufzüge, die etwa in Chemnitz aus dem Ruder laufen, der fragwürdige Suizid des IS-Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr trotz angeblich lückenloser Überwachung in der Justizvollzugsanstalt in Leipzig. Und nachdem sich die sächsische Regierung unter Kurt Biedenkopf in den 90er-Jahren als hartnäckige Rechtsextremismus-Leugnerin erwies, trägt die Regierung unter Michael Kretschmer schwer an den Folgen mit Rechtsextremismus-Problemen in Dörfern, Städten und Behörden.
Jeder Tag bringt neue Rekordwerte. Manche Orte liegen bereits bei Inzidenzwerten im vierstelligen Bereich. Sie illustrieren, was Kontrollverlust in der Realität bedeutet. So wurde denn darüber spekuliert, ob der Regierung nichts anderes übrigbleibt, als die am schlimmsten betroffenen Flächen abzuriegeln, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Doch Kretschmer verweist darauf, sein Land früher als andere „heruntergefahren“zu haben. Offenbar ohne Erfolg. Dennoch verspricht er: „Wir werden jetzt erst einmal die Wirkungen dieser Maßnahmen anschauen.“Das werde zehn bis 14 Tage dauern. Vorher sei somit „mit keinen weiteren Einschränkungen zu rechnen“. Krisenpolitik auf sächsische Art.
„Wir werden erst einmal die Wirkung dieser Maßnahmen anschauen“Michael Kretschmer (CDU) Sächsischer Ministerpräsident