Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Ich verdiene 250.000 Euro pro Monat“
Jahrelang hat ein krimineller Clan aus NRW deutsche Senioren um ihr Vermögen gebracht – bis die Polizei den Tätern auf die Schliche kam. Exklusive Einblicke in die Ermittlungen und in eine Parallelwelt.
„Die betroffenen älteren Leute sind am Boden zerstört“Ein leitender Ermittler des LKA
Ein junger Mann sitzt an einem Laptop und redet über sein Einkommen. „Ein Anruf kann dein Leben verändern“, sagt er zu zwei weiteren Männern, die mit ihm zusammen im Raum sind. Früher habe er auch nur 50.000 bis 60.000 Euro im Monat verdient. „Jetzt verdiene ich 200.000 bis 250.000 Euro pro Monat. Es kommt einfach drauf an, wie du arbeitest.“Mit nur wenigen Berufen lässt sich so viel Geld verdienen – und der junge Mann erreicht sein Ziel nicht auf legalem Weg: Er gehört einem libanesischen Clan an und hat im türkischen Izmir bis vor wenigen Tagen ein sogenanntes Callcenter betrieben. Von dort sind gezielt ältere Menschen in Deutschland angerufen worden. Die Anrufer in dem Callcenter haben sich als Polizisten ausgegeben und die Senioren überzeugt, Geld herauszugeben; die bekannte und weit verbreitete Betrugsmasche nennt sich „Falscher Polizist“.
„Der Inhaber dieses Callcenters hat einmal gesagt, er will damit Millionär werden. Jetzt habe er 200 Millionen. Dann wolle er jetzt auch Milliardär werden“, sagt ein leitender Ermittler des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes (LKA): „Das sind immense Summen, die sie den Menschen abnehmen. Und jedes Mal ist ein Einzelschicksal damit verbunden. Die betroffenen älteren Leute sind am Boden zerstört und wissen nicht mehr ein noch aus.“
Heimlich gefilmt hat die Szene ein mittlerweile im Gefängnis sitzendes Mitglied der Bande. „Wenn einer bemerkt hätte, dass der einen Mitschnitt macht, wäre ihm das nicht gut bekommen“, sagt ein leitender Ermittler. Sichergestellt hat die Polizei die Aufnahme auf dem Tablet des Mannes bei seiner Festnahme.
Am 2. Dezember haben türkische Polizisten in Izmir, einer Hafenstadt an der türkischen Ägäisküste, zwei Callcenter hochgehen lassen; eines auf Initiative der Münchener Polizei, das andere durch intensive Ermittlungen des LKA in NRW. Dabei sind 48 Objekte durchsucht worden; es gab 32 Festnahmen 1,5 Millionen Euro und 200.000 Dollar in bar wurden sichergestellt, die zum Teil in großen Bündeln auf Tischen lagen. Fünf Kilogramm Gold und hochwertige Uhren fand die Polizei. „Die ganz teuren Uhren tragen die Betrüger selbst – Rolex mit Brillanten“, berichtet der Ermittlungsleiter. Zudem wurden 41 hochwertige Fahrzeuge konfisziert. 87 Immobilien, darunter drei Hotels und Dutzende Luxuswohnungen, wurden beschlagnahmt. Die Gesamtsumme liegt bei 105 Millionen Euro. Aber die werde sich noch erhöhen, sagen die Ermittler, weil die Zählung des beschlagnahmten Vermögens noch nicht abgeschlossen ist. „Das ist das Ergebnis der Durchsuchungen aufgrund der gestellten Rechtshilfe durch die Staatsanwaltschaften München, Heilbronn und Düsseldorf“, sagt Thomas Jungbluth, Leitender Kriminaldirektor für Organisierte Kriminalität des LKA in NRW.
Die Ermittlungen beginnen 2016. Das LKA stellt damals fest, dass in NRW immer mehr Senioren auf diese Weise um ihr Geld gebracht werden. „Schnell war erkennbar, dass die Masche darauf abzielt, die gesamten Vermögenswerte und Ersparnisse der Opfer zu erlangen – und das mit hohem psychischen Druck auf die Opfer“, sagt Wolfgang Hermanns, Leitender Kriminaldirektor für strategische Kriminalitätsbekämpfung beim LKA.
Am 1. Dezember 2017 startet Hermanns ein Auswertungsprojekt, bei dem er und sein Team 16.000 Datensätze untersuchen; beteiligt sind auch fünf Kreispolizeibehörden in NRW. Auch andere Landeskriminalämter in Deutschland werden beratend hinzugezogen. Viele strategische Erkenntnisse über die Täter werden so gewonnen. „Wir wussten dann, dass die Täter im Callcenter in der Türkei sitzen und konnten letztlich ein Ermittlungsverfahren einleiten“, sagt Hermanns.
Michael Steffens (Name geändert) leitet die Einsatzkommission. Er stellt eine Ermittlungskommission im LKA NRW zusammen. Ziel der Ermittlungen im Auftrag der Staatsanwaltschaft Düsseldorf ist das Ausheben des Callcenters in Izmir . Und die Behörden liegen richtig: „Das war das richtige Callcenter, eines der beiden ganz großen dieser Art in der Türkei.“
Bei den Ermittlungen stößt die Polizei in NRW auf Personen, die bereit sind, auszusagen. Ein Kronzeuge nennt Interna. Die Callcenter liegen alle in der Türkei – es gibt große und kleinere. In Deutschland haben die Täter Strukturen aufgebaut, damit das Geld bei den Opfern abgeholt und in die Türkei transferiert werden kann. In Deutschland arbeiten sogenannte Abholer, die das Geld bei den Senioren einsammeln, und sogenannte Logistiker, die für die Organisation zuständig sind. Die Abholer werden selten von der Polizei gefasst; und noch seltener ein Logistiker. Im April 2019 gelingt es den Fahndern aber, in Düsseldorf einen Logistiker festzunehmen, der sie weiter auf die Spur des Callcenters in Izmir bringt. „Die Abholer sind keine hochintelligenten Kriminellen. Weil sie kein eigenes Auto haben, leihen sie sich zum Teil das Auto der eigenen Oma, um zu ihren Opfern zu fahren“, sagt Steffens.
Diese Abholer werden vor allem über die sozialen Medien angesprochen und rekrutiert. „Für ihre Dienste erhalten sie ein paar Hundert Euro“, sagt der Einsatzleiter. Während des Geldabholens müssen sie telefonisch Kontakt mit dem Callcenter in der Türkei halten, damit man dort sofort weiß, wenn etwas schiefgehen sollte. Das Geld übergeben sie dann dem Logistiker. Dieser ist bei neuen Abholern zunächst vorsichtig. Er bestellt sie für Geldübergaben zu Orten, wo er einsehen kann, ob die Abholer von der Polizei beobachtet werden. „Hat er Vertrauen zu den Leuten gefasst, lässt er sie auch in seine Stammkneipe kommen“, so Steffens.
Die Kriminellen kommunizieren untereinander in geschlossenen Facebook-Gruppen. „Da sind zum Teil 100.000 Leute in so einer Gruppe“, sagt der zuständige Düsseldorfer Staatsanwalt Julius Sterzel.
„Dort prahlen und sprechen die Kriminellen offen über ihre Machenschaften, posten Live-Videos und werben neue Abholer an“, erklärt er. Ein führendes Clanmitglied, er nennt sich selbst „Papa Kralle“, posiert dort mit Geldbündeln, die vor ihm auf einem Tisch liegen. Er trägt eine goldene Armbanduhr. In einem Post verhöhnt er die Ermittlungsbehörden: „Ich habe einen EU-weiten Haftbefehl, dumm nur, dass die Türkei nicht in einer Zusammenarbeit mit Deutschland steht. Da es kein Auslieferungsverfahren gibt. Heißt auf gut Deutsch, dass ich in Izmir sitze und die haben Pech.“
Er wirbt auch offen um neue Abholer: „Ich mache im Monat 250.000 Euro durch meine Betrugsmasche… Ab und an vergebe ich Jobs. Als Abholer kannst du bei mir bis zu 15.000 Euro verdienen. Da ich neue suche, könnt ihr unter meinen Kommentaren Leute markieren, die seriös sind. Für eine anständige Vermittlung bekommt ihr 5000 Euro.“
Es dauert etwas, bis die türkischen Behörden überzeugt sind, gegen das Callcenter vorzugehen. Das LKA kann nicht selbst in der Türkei ermitteln. „Wir mussten die Türken in die Lage versetzen, auf unsere Bitte hin ein eigenes Verfahren einzuleiten“, sagt Steffens. Ein Antrag auf Rechtshilfe wird gestellt. „Diese Rechtshilfe läuft nicht täglich ab – schon gar nicht mit der Türkei. Man muss den Anforderungen der türkischen Justiz Genüge leisten. Die wollen auf jeden Fall Opfer haben. Und das Opfer muss aussagen, wie hoch der Schaden ist. Dann muss der Weg des Logistikers in die Türkei verfolgt und belegt werden“, erklärt der Einsatzleiter.
Das Anfangsverfahren in den Ermittlungen sei ein Fall in Aachen gewesen, der selbst einen so erfahrenen Ermittler wie Steffens innerlich sehr aufgewühlt hat. „Eine Frau hat ihr gesamtes Erspartes von rund
200.000 Euro den Betrügern gegeben. Sie hat auch noch ihren Dispo bei der Bank ausgeschöpft. Sie hat also nicht nur kein Geld mehr, sondern auch Schulden. Und die Täter haben später bei ihr noch angerufen und sie verhöhnt.“
Die Opfer sind laut LKA durch die Manipulation am Telefon so überzeugt, mit tatsächlichen Polizisten zusammenzuarbeiten, dass sie die echten Polizisten, die später kommen, für die falschen halten. „Es ist echt unglaublich, was da passiert. In einem Fall hat eine Frau ihr Haus verkauft. Man fragt sich: Leben diese Menschen hinterm Mond? Nein, das tun sie nicht. Da sind Akademiker unter den Opfern. Viele Opfer streiten sogar ab, Opfer geworden zu sein. Sie schämen sich und wollen nicht, dass ihre Kinder das erfahren“, sagt er.
Ein Callcenter wie das in Izmir tätigt bis zu 300 Anrufe am Tag. Die Anrufer sitzen in mehreren Räumen und telefonieren Namenslisten ab; häufig stammen die Daten aus Telefonbüchern, in denen gezielt nach älteren Vornamen wie Elisabeth oder Kurt gesucht wird. „Drei Prozent der Angerufenen springen darauf an; bei einem Prozent erfolgt ein Abschluss. Das sind drei erfolgreiche Gespräche am Tag“, sagt Steffens. Und eine Menge Geld.
Die Masche ist fast immer gleich: Ein angeblicher Polizist ruft an und übergibt das Gespräch dann weiter an seinen vermeintlichen Chef, im Fall des Callcenters in Izmir immer an Oberkommissar Bach oder Berger. Und der führt dann die Gespräche. Anfangs wundert sich die Polizei, dass die Anrufer immer dieselben Namen nehmen. Dann kommen sie dahinter: Die sogenannten Hauptabschließer, von denen es im Callcenter drei bis fünf gibt, führen parallel mehrere Gespräche. „Wenn sie mehrere Namen verwenden würden, kämen sie durcheinander. Darum nur Bach und Berger“, sagt der Einsatzleiter. Der Polizei verschafft das einen entscheidenden Vorteil: Sie können durch diese Namen die Taten konkret dem einen Callcenter zuordnen – dem in Izmir.
Von einer ersten Kontaktaufnahme zu einem Opfer gibt es so gut wie keine Aufzeichnungen; dem LKA liegt jedoch eine ganz seltene Ausnahme vor. Falscher Polizist: „Hallo Frau B. Hier spricht Bach von der Polizei. Gucken Sie schnell, ob bei ihnen alle Türen und Fenster zu sind.
Sofort! Schnell! In der Nachbarstraße wurde eingebrochen.“Steffens ordnet ein: „Das ist die Phase, wo der erste Anruf erfolgt. Es wird sofort ein Drohszenario aufgebaut. Dann sind die älteren Leute erst einmal völlig außer sich, weil die Polizei anruft und sagt, man soll das Fenster schließen. Der Anrufer vermittelt, dass die Einbrecher draußen sind. Dann haben die Angerufenen schon einmal etwas Panik.“Dann will der Anrufer mit ihrem Ehemann sprechen. Sie holt ihn ans Telefon. Falscher Polizist: „Bach von der Polizeidirektion. Sie sind Herr B.? In der Nachbarstraße wurde eingebrochen. Wir haben drei Verdächtige festgenommen. Bei der Durchsuchung der Personen haben wir ein Notizbuch gefunden. Da steht Familie B. mit Adresse, und dass ihr Haus eine Alarmanlage hat. Und dann steht da: Die haben zu Hause sehr viel Bargeld. Woher wissen diese Leute das, Herr B.? Woher wissen die, dass sie eine Alarmanlage haben?“Die Angerufenen merken in dem Fall aber, dass da etwas nicht stimmt und legen auf. „Das sind natürlich Sachen, die bekommt man in polizeilichen Ermittlungen über Telefonüberwachung gar nicht mit, weil das ein Erstanruf ist“, stellt Steffens fest. Ein Callcenter besteht aus mehreren Wohnungen; häufig in einem Hochhaus. Die Anrufer sitzen dort mit Headsets. „Sie sagen ihren Satz, warten auf die Reaktion der Opfer“, erklärt der Einsatzleiter. Wenn die Angerufenen darauf anspringen, übernimmt ein Sprecher in einem anderen Zimmer. Dieser sitzt vor einem Bildschirm und ruft sich die Straße auf, an der das Opfer wohnt.
Die Gespräche werden über Stunden geführt; häufig abends, wenn die Betroffenen müde und erschöpft sind. Und sie werden stark unter Druck gesetzt. „Die Opfer sind wirklich felsenfest davon überzeugt, mit der Polizei zu sprechen. Und sie haben Angst. Und sie machen dann alles, um die Angst loszuwerden“, sagt Steffens.
„Die Opfer schämen sich und wollen nicht, dass ihre Kinder das erfahren“Leiter der Ermittlungskommission