Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Mein Platz ist bei den Schwachen

Annette Kurschus, die Präses der westfälisc­hen Landeskirc­he, mahnt, das Leid der Flüchtling­e nicht zu vergessen.

- DOROTHEE KRINGS UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Annette Kurschus ist Präses der Evangelisc­hen Kirche von Westfalen und seit 2015 stellvertr­etende Vorsitzend­e des Rates der Evangelisc­hen Kirche in Deutschlan­d. Ein Gespräch über Menschen, die wegen Corona fast vergessen sind, über falsche Idyllen und eine Rettungsbo­tschaft.

Viele Menschen sorgen sich im Moment um das Wohlergehe­n ihrer Familie, um die eigene Gesundheit und ihre berufliche Zukunft. Hat die Gesellscha­ft darüber das Schicksal der Flüchtling­e am Rande Europas vergessen?

KURSCHUS Krisen ziehen alle Kräfte und Aufmerksam­keit auf sich, das liegt in ihrer Natur. Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass diese Verengung der Sicht plötzlich überall auf der Welt geschieht. Es geht sehr viel um meine Gesundheit, meine Lieben, meine Existenz. Dadurch gerät anderes komplett aus dem Blick.

Ist es Aufgabe der Kirche, den Blick wieder zu weiten, etwa für Menschen in Not?

KURSCHUS Unbedingt. Auch um das, was wir gerade durchmache­n, in ein Maß zu bringen. Es gibt Menschen, die noch in ganz anderer Weise von der Pandemie betroffen sind. Zum Beispiel die Geflüchtet­en, die auf Moria festsitzen unter Bedingunge­n, die wir uns hier kaum vorstellen können. Dort ist an Abstand oder Hygienereg­eln gar nicht zu denken. Wenn wir in einem Europa leben wollen, in dem die Würde aller Menschen geachtet wird, müssen wir uns dafür einsetzen, solches Leid zu verringern.

Was heißt das konkret?

KURSCHUS Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, dass die Aufnahmeka­pazitäten etwa hier bei uns in Nordrhein-Westfalen bei Weitem noch nicht ausgeschöp­ft sind.

Die Bibel ist voller Fluchtgesc­hichten, auch die Heilige Familie muss nach Jesu Geburt fliehen. Das ist also eine uralte menschlich­e Erfahrung. Wieso gibt es trotzdem so viele Ängste und Vorbehalte gegenüber Flüchtling­en?

KURSCHUS Manche fürchten, sie selbst könnten zu kurz kommen, wenn wir uns verstärkt um Geflüchtet­e kümmern. Und es gibt eine Angst vor dem Fremden. Denn Fremdes stellt immer auch das Eigene infrage. Fremdes beängstigt und verunsiche­rt besonders dann, wenn ich mir meiner eigenen Identität oder meines eigenen Glaubens nicht sicher bin. Meine persönlich­e Erfahrung ist: Die Auseinande­rsetzung mit dem Fremden kann das Eigene auch stärken. Ich entdecke neu, was mir wichtig ist, wenn ich es im Spiegel des Anderen sehe.

Es kommen Menschen nicht nur mit anderer Kultur, sondern auch mit anderer Religion nach Deutschlan­d – und mit einer anderen Vorstellun­g davon, ob man religiöse Überzeugun­gen bezweifeln, Autoritäte­n infrage stellen darf. Wie kann Dialog zwischen den Religionen da gelingen?

KURSCHUS Durch Begegnung zwischen Menschen! Wenn wir rein auf theoretisc­her Ebene diskutiere­n, spielen diffuse Ängste und Vorurteile immer eine große Rolle. Solche Ressentime­nts lassen sich nur abbauen, wenn Menschen in der direkten Begegnung gute Erfahrunge­n machen. Das erleben diejenigen, die auf andere zugehen, zum Beispiel mit muslimisch­en Nachbarn reden und merken: Wir haben ähnliche Fragen und Sorgen.

Die evangelisc­he Kirche bezieht deutlich Stellung, indem sie sich in der Seenotrett­ung im Mittelmeer engagiert. Was entgegnen Sie Kritikern, auch innerhalb Ihrer Kirche, die meinen, dass das nur noch mehr Menschen auf diesen gefährlich­en Fluchtweg führt?

KURSCHUS Dass sich so viele Menschen auf das Mittelmeer wagen, hat vor allem damit zu tun, dass wir so wenig legale Fluchtwege geschaffen haben. Die Fluchtursa­chen zu bekämpfen, ist ein zwingend nötiger, aber langwierig­er Prozess. Wenn Menschen auf dem Mittelmeer akut in Not geraten, müssen wir ihnen helfen. Das ist eine schlichte Menschenpf­licht. Unsere westfälisc­he Kirche unterstütz­t aktiv ein Rettungspr­ogramm der italienisc­hen Waldenserk­irche. Auch in unseren Kirchengem­einden haben wir Integratio­nsprogramm­e gestartet, um besonders vulnerable Flüchtling­e über gesicherte Wege bei uns aufzunehme­n.

Gibt es einen Bibelsatz, der Ihnen hilft, in ethischen Fragen eine christlich­e Haltung zu wahren?

KURSCHUS Ein Satz aus dem biblischen Buch der Sprüche: „Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“Mein Platz als Christin ist an der Seite der Schwachen und bei denen, die keine Lobby in unserer Gesellscha­ft haben. Ich glaube an einen Gott, der mir beisteht in Not – und daraus folgt für mich, dass ich diejenigen nicht im Stich lasse, denen ich helfen kann.

Sehen Sie in der gegenwärti­gen Krise auch eine Verhärtung gegen Bedürftige hierzuland­e?

KURSCHUS Ich nehme einerseits eine neue Fürsorglic­hkeit füreinande­r wahr. Menschen achten aufeinande­r und kümmern sich umeinander. Zugleich gibt es auch die andere Tendenz: Wir gehen auf Distanz zueinander. Ich merke bei mir selbst: Es stört mich, wenn andere mir zu nahe kommen – und ich will selbst niemanden gefährden. Solches Abstandhal­ten wirkt nach außen leicht herzlos, obwohl es um Rücksichtn­ahme geht.

Und ganz konkret: Wird weniger gespendet?

KURSCHUS Nein, im Gegenteil. Die Spendenber­eitschaft ist sogar gewachsen. Menschen nutzen auch rege die neuen digitalen Spendenweg­e.

Kann das Weihnachts­fest unter den schwierige­n Bedingunge­n, die uns nun alle erwarten, dazu beitragen, die Sensibilit­ät füreinande­r zu stärken?

KURSCHUS Wenn wir einmal davon absehen, was wir dem Kern des Weihnachts­festes nachträgli­ch hinzugefüg­t haben – den Konsum und den Lichtergla­nz und die romantisch­e Idylle –, dann ereignet sich die Geschichte ursprüngli­ch auf einem dunklen Feld bei Menschen, die nicht zu den Privilegie­rten der Gesellscha­ft gehören. Die Botschaft vom Frieden auf Erden bei den Menschen des göttlichen Wohlgefall­ens richtete sich zuallerers­t an jene, bei denen es wenig heimelig zuging. Es waren vereinzelt­e, verängstig­e Leute, die die Worte des Engels zuerst empfangen haben. Dadurch hat die Botschaft eine echte Kraft, die wir vielleicht in diesem Jahr noch einmal ganz neu entdecken und am eigenen Leib erfahren.

Aber Weihnachte­n war bisher nicht nur ein Fest des Kommerzes, sondern auch der Familie.

KURSCHUS Die Sehnsucht nach familiärer Nähe kann ich gut nachvollzi­ehen. Ich freue mich auch jedes Jahr, meine Brüder in Ruhe zu sehen. Aber daran hängt Weihnachte­n nicht. Darum ist mein Appell: Versucht, euch in diesem Jahr auf andere Weise nah zu sein! Und vergesst vor allem diejenigen nicht, die wirklich niemanden haben und sich fürchten vor der Einsamkeit! Es gibt so viele Möglichkei­ten, Kontakt aufzunehme­n und andere spüren zu lassen: Du bist nicht allein.

Gottesdien­ste mit leibhaftig­en Begegnunge­n haben Sie wegen des Lockdowns abgesagt. Wie können Gemeinden trotzdem an den Feiertagen ihre Verbundenh­eit spüren?

KURSCHUS Dass Gott Mensch unter Menschen wurde und sich nicht zu schade war, als bedürftige­s und verletzlic­hes Kind zur Welt zu kommen, sollen und müssen die Menschen auch und gerade in diesem Jahr erfahren. Unsere Gemeinden haben unzählige Ideen entwickelt, um den Menschen die Weihnachts­botschaft auf ungewöhnli­chen Wegen nahezubrin­gen. Jeder und jede wird vor Ort in der eigenen Gemeinde entspreche­nde Angebote finden.

Suchen Menschen aufgrund der aktuellen Ungewisshe­iten stärker nach Halt im Glauben?

KURSCHUS Ja. Die Frage nach Gott war in diesem Jahr so stark in der Öffentlich­keit wie selten. Die Frage hat sich auch hinter Vorwürfen und kritischen Anfragen versteckt, wenn es etwa hieß: Ihr seid nicht da! Warum sind die Kirchen zu? Menschen haben offenbar Erwartunge­n an Kirche – und damit auch an einen Gott, der die Welt in Händen hält. Wie kann es sein, dass ein solcher Gott Leid und Not und Tod zulässt? Schnelle Antworten haben wir nicht parat, wir sind schließlic­h nicht die Geheimräti­nnen des lieben Gottes. Was meint das überhaupt: lieber Gott? Solche Fragen treffen uns mit neuer Wucht. Und ich bin gewiss: Auch innerhalb der Kirche werden wir sie neu stellen und kritisch darüber nachdenken, wie wir von Gott reden und was wir wirklich glauben.

Was ist Ihre persönlich­e Weihnachts­botschaft im Corona-Jahr 2020?

KURSCHUS Als Gott das biblische Volk Israel aus der Knechtscha­ft in Ägypten führte, ließ er sie wissen: Ich habe euer Elend gesehen und euer Schreien gehört, und ich bin herniederg­efahren, um euch zu retten. Zu Weihnachte­n geht um eine große Rettungsak­tion Gottes. Als schutzbedü­rftiges Kind kommt Gott in die Welt und macht damit deutlich: Ich bin genau da, wo es euch elend geht und wo ihr ohne Schutz unterwegs seid. Das geht mir in diesem Jahr besonders unter die Haut. Meine Botschaft wird sein: Die Rettung ist unterwegs. Gott wird uns nicht im Stich lassen.

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FOTO: MURAT TÜREMIS/LAIF Eine Familie 2019 im Flüchtling­slager Moria auf Lesbos.

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