Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
100. Geburtstag
Nach dem BeethovenJubiläum 2020 steht dieses Jahr Joseph Beuys im Fokus. Das revolutionäre Denken des berühmten niederrheinischen Künstlers war auch politisch.
Düsseldorf Die Themen unserer Gegenwart waren schon seine: Joseph Beuys, der am 12. Mai dieses Jahres 100 Jahre alt würde, kritisierte die Vergehen der Zivilisationen an Ureinwohnern in aller Welt, den Raubbau an der Natur und ein politisches System, das allein auf Gewinn ausgerichtet ist. So radikal er wirkte, so wenig ließ er sich vereinnahmen. Sollte er sich heute zur Pandemie äußern, stünde er gewiss weder aufseiten der Virologen noch aufseiten der „Querdenker“. Dabei war genau dieses Feld zwischen Wissenschaft und Spiritismus sein Arbeitsgebiet.
Aufklärung und Schamanentum waren die Pole, zwischen denen er sich bewegte und die er miteinander zu versöhnen suchte. Schamanismus galt ihm als Urphänomen, das zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Menschen und Geistesmächten vermittelte. Aufklärung bedeutete für Beuys, vom Verstand geleitet die Welt in humanem Sinne zu verbessern. Dazu bedurfte es eines klaren Denkens, demokratischen Handelns und der Ausrichtung auf ein Ziel.
Dieser klare Beuys, ein früher grüner Direktkandidat bei den Wahlen zum Europaparlament, zuvor Gründer einer Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung sowie einer Freien Internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung, ist ein wenig in Vergessenheit geraten, obwohl zahlreiche seiner Themen von damals diejenigen von heute sind. Stattdessen arbeiten sich viele an seinem Schamanismus ab, an seiner scheinbar antiaufklärerischen Seite.
Zu verstehen ist Beuys, der Denker, Zauberer und Heiler, einzig und allein aus seiner Kunst, vor allem aus seinem Schlüsselwerk, der Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“am 26. November 1965 in der Düsseldorfer Galerie Schmela. Beuys, den Kopf vollständig mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, versperrte die Tür zu seiner Ausstellung von innen, so dass die Besucher die Aktion nur von außen verfolgen konnten. Mit dem Tier auf dem Arm und offenbar im belehrenden Gespräch mit ihm schritt er von Objekt zu Objekt. Dabei kam es ihm auf die Beziehung zwischen Denken, Sprechen und Gestalten an.
„Mit Honig auf dem Kopf“, so äußerte sich Beuys, „tu’ ich natürlich etwas, was mit Denken zu tun hat. Die menschliche Fähigkeit ist, nicht Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. Dadurch wird der Todescharakter des Gedankens wieder lebendig gemacht.“Der menschliche Gedanke, so fährt Beuys fort, könne lebendig, aber auch „intellektualisierend tödlich sein, sich todbringend äußern, etwa im politischen Bereich oder der Pädagogik“.
Leicht ist es nicht, Beuys‘ Bildern und Gedanken zu folgen. Wichtig war ihm vor allem, die Betrachter zu eigenem Denken anzuregen in den Weiten zwischen Geist und Natur, und sie zurückzuführen in eine Welt, in der die beiden noch nicht als Gegensätze galten.
Hase, Schwan und Hirsch – diese und andere Tiere durchziehen bereits Beuys’ frühe, kompositorisch bemerkenswerte Zeichnungen aus den 1950er-Jahren, und sie hielten sich bis in späte Werke. Seine „Hirschdenkmäler“von 1982 wurden als Versuche gedeutet, den Symbolismus der germanischen Tradition mit neuer Bedeutung aufzuladen, um den Deutschen zu helfen, sich vom Albtraum des Nationalsozialismus zu befreien. In diesem Zusammenhang war der Hirsch für Beuys ein Tier, „das in Zeiten der Not erscheint“und durch sein Geweih, das immer wieder abgeworfen wird und nachwächst, ein Sinnbild von Wiedergeburt und Erneuerung.
Wer die „Hirschdenkmäler“damals in der Zeitgeist-Ausstellung des Berliner Gropius-Baus sah, wird sich vor allem an ihre Kargheit erinnern: ein Lehmhügel, Werkbänke und
Elektromotoren. Anderenorts verwandelten sich unter Beuys‘ Händen Schultafeln, Batterien, Schlitten und Reagenzgläser zu Kunst, ebenso alte Schokolade und abgeschnittene Zehennägel. Filz und Fett wurden zu bevorzugten Werkstoffen, in Kruzifixen und an Stühlen.
Das meiste davon befindet sich längst in Museen, in Düsseldorf vor allem im K20 mit seinen Werken aus der Sammlung Ulbricht und im Kunstpalast, in Krefeld im Kaiser-Wilhelm-Museum mit Beuys’ zentraler Installation „Barraque D’Dull Odde“, zu Deutsch „verlassener Ort“. Er schuf diesen unverkennbar auf ihn selbst gemünzten „Arbeitsplatz eines Wissenschaftlers/Künstlers“zwischen 1961 und
1967.
Die Arbeit besteht aus einem großen Doppelregal mit Pult und Sitzgelegenheit. Dort sind alle Hinterlassenschaften eines jahrelangen künstlerischen Prozesses abgelegt, der darauf zielte, einen neuen Kunst- und zugleich einen neuen Lebensbegriff zu veranschaulichen: chemische Substanzen in Glasflaschen und eine Filzmatte, Pappschachteln, ein Magnet und eine Gaslampe zur Kennzeichnung von Baustellen – Krimskrams, der ein alchemistisches Chaos zu ergeben scheint und doch vor allem einen Beitrag zu Beuys’ großem Thema „Natur und Geist“bildet.
Nach wie vor wird Beuys verehrt und angefeindet. Die einen nennen ihn posthum schulterklopfend den „heiligen Jupp vom Niederrhein“, andere werden nicht müde, ihm eine strittige Vergangenheit vorzuhalten. Vor allem Hans Peter Riegel erregte mit seinem Buch „Beuys. Die Biographie“Aufsehen: Der Künstler habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von seiner Zeit als Hitlerjunge und Berufssoldat distanziert, habe sich im Gegenteil weiter mit alten Kameraden umgeben, ein eigenartiges Germanentum gepflegt und lediglich die Ideen des Anthroposophen Rudolf Steiner in plastische Werke umgesetzt.
Das alles und noch viel mehr ist nicht von der Hand zu weisen, doch
100 Jahre nach Beuys’ Geburt sollte sich der Blick vor allem auf seine Verdienste richten. Er war ein Magier, ein Zauberer, ein Schwebender zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Sinnlichem und Übersinnlichen, ein konservativer Revolutionär, kurz: einer, der sich schwer verorten lässt. Als Professor an der Düsseldorfer Akademie war er ein Lehrer, der sich für seine Studentinnen und Studenten mehr Zeit als die meisten seiner Kollegen nahm und dazu beitrug, den Ruhm der Hochschule zu mehren. Seine Visionen von einer menschenfreundlichen, gerechten, schöpferischen Welt sind heute so unabdingbar wie zur Zeit, als Beuys sie in Bilder goss.