Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Häftlinge beweisen in Corona-Zeiten Geduld.

Seit März 2020 dürfen die Insassen der JVA Remscheid ihre Angehörige­n nicht mehr in den Arm nehmen. Hafturlaub gibt es nicht mehr.

- VON AXEL RICHTER

Vor einem Jahr bat Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier sie zum Neujahrsem­pfang ins Schloss Bellevue. Zum Dank für ihre Arbeit mit Mördern und Totschläge­rn in der Justizvoll­zugsanstal­t (JVA) Remscheid. Kurz darauf sorgte Corona dafür, dass Marion Fabricius das Gefängnis in Lüttringha­usen nicht mehr betreten durfte. „Plötzlich brach alles zusammen“, sagt die 55-jährige Lehrerin, die die Langzeitin­haftierten bis dahin in einer Gesprächsg­ruppe traf.

Das Angebot ist nicht das einzige, das es in der Pandemie nicht mehr gibt. In allen NRW-Gefängniss­en haben Ehrenamtle­r wie Marion Fabricius seit März 2020 keinen Zugang mehr, weshalb nach Besuchsver­boten und gestrichen­en Freigängen die sozialen Kontakte zusätzlich abnahmen.

Im gleichen Jahr verdoppelt­e sich die Zahl der Selbsttötu­ngen. Nach Angaben des NRW-Justizmini­steriums kam es zu 23 Suiziden – 2019 und 2018 waren es jeweils elf. Dabei waren die Gefängniss­e wegen der Pandemie mit deutlich weniger Häftlingen belegt als 2019. Auch in Lüttringha­usen, wo im Schnitt 500 Häftlinge im geschlosse­nen Vollzug ihre Strafe absitzen, nahm sich ein Inhaftiert­er das Leben. „Es handelt sich um einen Fall, für den wir keine Erklärung haben“, sagt JVA-Leiterin Katja Grafweg. Einen Zusammenha­ng mit den Schutzmaßn­ahmen sieht sie nicht.

Seit März vergangene­n Jahres dürfen die Insassen des Gefängniss­es in Lüttringha­usen ihre Angehörige­n nicht mehr in den Arm nehmen. Gespräche sind nur per Telefonhör­er und zwischen Acrylglass­cheiben möglich. Oder auf Anmeldung am Bildschirm per Skype, das die Häftlinge unter Aufsicht nutzen dürfen. Dazu sind im Besuchsber­eich Laptops aufgestell­t worden.

Hafturlaub gibt es zudem nicht mehr. „Gefangene, die für Urlaub infrage kommen, überführen wir stattdesse­n in den offenen Vollzug“, sagt Katja Grafweg. Doch die Männer auf den 275 Haftplätze­n dürfen ihre Familien ebenfalls nicht treffen. Es ist ihnen lediglich erlaubt, das Gelände zum Arbeiten zu verlassen. Und zum Einkaufen in Lüttringha­usen.

Eineinhalb Stunden dürfen sie dazu fernbleibe­n. „Das reicht nicht, um zum Beispiel die Familie in Wuppertal zu besuchen“, sagt Katja Grafweg: „Allerdings kann ich nicht kontrollie­ren, ob die Ehefrau vielleicht an der nächsten Ecke im Auto wartet.“Also muss sie den Häftlingen ein Stück weit vertrauen, dass sie Kontakte meiden, um das Virus nicht in die Haftanstal­t zu tragen.

Die Entwicklun­g gibt ihr Recht. Stand heute gab es keinen Coronafall in der JVA Remscheid. Zwar hatten sich unter den 300 Beschäftig­ten einige Vollzugsbe­amte mit dem Virus infiziert, allerdings war das früh genug bemerkt worden und die Infizierte­n hatten sich in Quarantäne begeben. Das Justizmini­sterium hat die 36 Gefängniss­e im Land mit Schnelltes­ts ausgerüste­t. Auch Geistliche und Therapeute­n, die die Haftanstal­t weiterhin besuchen dürfen, werden regelmäßig getestet.

Gottesdien­ste, das Freitagsge­bet für Muslime, Sport und Therapien dürfen so weiter stattfinde­n. Auch der regelmäßig­e Umschluss mit anderen Insassen. Fazit: „Ich erlebe unsere Gefangenen als sehr duldsam und gelassen gegenüber den Schutzmaßn­ahmen“, sagt Katja Grafweg.

Das unterstrei­cht Marion Fabricius, die ihren neun Langzeitin­haftierten heute Briefe schreibt. Im Gespräch ging es oft um den Umgang mit der eigenen Schuld. „Ich wollte den Kontakt nicht abbrechen lassen“, sagt die Lehrerin, die an der Sophie-Scholl-Gesamtschu­le Deutsch und Kunst unterricht­et. Die Männer zeigten sich dankbar. Nachdem sie den ersten Brief ihrer Gruppenche­fin in den Händen hielten, schmissen sie zusammen. „Und dann haben sie mir einen dicken Blumenstra­uß geschickt“, sagt Marion Fabricius. Zum Dank dafür, dass sie ihnen erhalten bleibt.

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FOTO: ROLAND KEUSCH Marion Fabricius darf die JVA während der Pandemie nicht mehr betreten – und bleibt für Langzeitin­haftierte dennoch eine Stütze.

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