Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Die lange Krankheit
Bleierne Müdigkeit, Depressionen, Konzentrationsstörungen – immer mehr Menschen erleben nach einer überstandenen Corona-Infektion andauernde Beschwerden. Long-Covid nennen das die Mediziner.
„Wir können den Betroffenen hier nur dabei helfen, ihr Krankheitsbild zu akzeptieren“
Jördis Frommhold Fachärztin für Innere Medizin
und Pneumologie
Corona hatte sie längst vergessen. Vor drei Monaten hatte sich die 30-Jährige mit SarsCoV-2 infiziert. Wo, das weiß sie bis heute nicht genau. „Ich vermute, es war bei einem beruflichen Termin“, erinnert sie sich. Es hat sie damals auch nicht besonders interessiert, denn sie hatte Glück. Dachte sie damals. Die Infektion verlief milde, mehr als ein grippaler Infekt und ein paar Tage leichtes Fieber waren es nicht. Vor ein paar Wochen dann begannen erste Beschwerden: Ständig fühlte sie sich müde, abgeschlagen, lustlos. Und auch körperlich nahm ihre Leistungsfähigkeit stetig ab. Schließlich musste sie auch beruflich kürzer treten.
Die junge Frau ist das typische Beispiel für die zunehmende Zahl von Menschen, die nach einer zunächst überstandenen Covid-19-Infektion nicht wieder auf die Beine kommen. Die Spätfolgen von Corona sind heute, rund ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Krankheit, unter Medizinern längst keine Seltenheit mehr. „Long-Covid“– Langzeit-Covid nennen sie es.
Lange war die Datenlage zum Thema dünn, ganz einfach deshalb, weil Sars-CoV-2 noch nicht lange genug unter den Menschen zirkuliert. Inzwischen belegen aber Studien, dass mit der Anzahl der Genesenen auch die Zahl der Menschen steigt, die an massiven Spätfolgen leiden. Vor allem im chinesischen Wuhan, wo Covid-19 zuerst grassierte, konnten Wissenschaftler viele Daten und Erkenntnisse sammeln. Sie veröffentlichten die Ergebnisse im medizinischen Fachblatt „The Lancet“. Demnach litt etwa jeder zweite Corona-Infizierte, der in einer Klinik behandelt wurde, an den Spätfolgen einer Corona-Infektion. Von mehr als 1700 Covid-Kranken hatten 76 Prozent nach bis zu sechs Monaten noch mindestens ein Symptom.
Jördis Frommhold ist Fachärztin für Innere Medizin und Pneumologie in der Median Klinik in Heiligendamm. Vor knapp einem Jahr, im April 2020, hat die Klinik erste Patienten mit Long-Covid-Symptomen aufgenommen. Bis heute wurden
450 behandelt. Und es werden täglich mehr. Frommhold arbeitet mit den Betroffenen; sie weiß nach elf Monaten Erfahrung, dass es jeden treffen kann. Das Beispiel aus dem medizinischen Alltag zeigt: Man muss zuvor nicht zwingend schwer an Covid-19 erkrankt sein, um Spätfolgen zu bekommen. Ganz im Gegenteil: Häufig trifft es auch junge Patienten oder sogar Leistungssportler und andere zuvor nur leicht Erkrankte.
Frommhold unterscheidet drei Gruppen von Genesenen: „Die größte Gruppe hatte insgesamt einen unauffälligen Covid-19 Verlauf mit milden Symptomen.
Die zweite Gruppe erkrankte so schwer, dass eine stationäre intensivmedizinische Behandlung erforderlich war.“Die meisten Sorgen aber bereitet der Fachärztin für Atemwegserkrankungen Gruppe drei: „Diese Menschen haben häufig einen leichten bis mittelschweren Covid-19-Verlauf hinter sich und mussten gar nicht oder nur kurz ins Krankenhaus“, erklärt sie. Häufig seien dies jüngere Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Und gerade diese Männer und Frauen aus der dritten, vermeintlich unauffälligen Gruppe, bekämen besonders häufig Long-Covid. „Hier sind die Langzeitwirkungen besonders stark ausgeprägt“, sagt Frommhold. Diese Patienten fühlen sich zunächst genesen und nehmen ihren Alltag wieder normal auf. Nach einigen Wochen dann stellen sich die typischen Symptome einer Long-Covid-Erkrankung ein.
Die meisten Betroffenen klagen über eine unerklärliche, bleierne Müdigkeit. Eine Art dauerhafte, tiefe Erschöpfung und Abgeschlagenheit. Mediziner haben hierfür einen Fachbegriff: Chronische Fatigue. Damit einher gehen sehr häufig auch neurologische und kognitive Beschwerden. „Die Menschen werden vergesslich, das Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr richtig, sie haben Konzentrationsstörungen und brauchen ewig, um etwa eine E-Mail zu schreiben“, beschreibt Frommhold das Krankheitsbild. Hinzu kämen dann häufig psychologische Auffälligkeiten wie Depressionen. Aber auch entzündliche Erkrankungen des Gefäß- und Immunsystems, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Haarausfall und Sehstörungen hat sie bei Patienten beobachtet.
Befunde, die Angst machen. Zumal sich keiner der Betroffenen – besonders aus der dritten Gruppe – sicher sein kann, eines Tages wieder ein komplett beschwerdefreies Leben zu führen. „Bei diesen Männern und Frauen kann es zu bleibenden Schäden kommen“, so die Fachärztin. Medikamente etwa gegen die Fatigue gebe es nicht. „Wir können den Betroffenen hier nur dabei helfen, ihr Krankheitsbild zu akzeptieren, ihnen einen strukturierten Tagesablauf aufzeigen, mit regelmäßigen Erholungsphasen und Ergotherapie.“
Betroffene der Gruppe zwei haben weitaus bessere Chancen, komplett gesund zu werden. Diese Patienten seien sehr gut und effizient therapierbar, so Frommhold: „Sie können durch gezielte Therapie ihre Leistungsfähigkeit und die Sauerstoffaufnahme wieder erheblich steigern.“Etwa drei bis fünf Wochen dauere die durchschnittliche Behandlung in einer Rehabilitation.
Bleibt die Frage: Kann man möglichen Spätfolgen vorbeugen, wenn man an Covid-19 erkrankt? „Im Prinzip nicht“, antwortet die Ärztin. Sie rät dringend: „Wer sich auch Wochen nach einer durchgemachten Corona-Erkrankung noch nicht richtig fit fühlt und Einschränkungen körperlicher oder neurologischer Art verspürt, sollte unbedingt seinen behandelnden Arzt aufsuchen oder eine Corona-Ambulanz.“Was der Medizinerin zusätzlich Sorge bereitet, sind zunehmend auch Anrufe verzweifelter Eltern, die Long-Covid-Symptome bei ihren Kindern beobachten. Frommhold ist überzeugt: „Wir sehen derzeit nur die Spitze des Eisbergs.“