Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Op fietse Die Niederlande gelten als Vorbild fur Rad-Liebhader. Eine Erkundung zum Auftakt unserer neuen Serie.
Das Nachbarland gilt als Vorbild und Projektionsfläche für alle Rad-Liebhaber. Doch wie kommt das eigentlich? Erkundungen auf den Radwegen – und abseits davon.
Stellen Sie sich vor: Angela Merkel sucht Frank-Walter Steinmeier auf, mitten in einer akuten politischen Krise. Trotz geringer Distanz zwischen Bundeskanzleramt und Schloss Bellevue ist die Idee abwegig, dass Merkel sie mit dem Rad zurücklegt. Genau dies aber tat Mark Rutte im Januar: Nach dem Rücktritt seiner Koalition schwang er sich in den Sattel, um hinüber zum Staatsoberhaupt zu radeln. Im Palast unterrichtete er sodann König Willem-Alexander über den Stand der Dinge.
In den letzten Monaten sieht man den Premier regelmäßig auf dem Tourenrad – ein Koga F3, wie der renommierte niederländische Hersteller gerne betont. Er ist unterwegs zu seinem Amtssitz in Den Haag, wo er in Treffen mit Ministern und Medizinern den Stand der Dinge in Sachen Corona eruiert. Kurios finden das vor allem internationale Medien. Hierzulande weiß man, dass auch das politische Spitzenpersonal gerne
„de fiets pakt“, also das Rad nimmt, um von A nach B zu gelangen. Vor
20 Jahren trat Ruttes Vor-Vorgänger Wim Kok in die Pedale, danach war Minister Piet Hein Donner dafür bekannt.
Im Autoland Deutschland wirkt das kurios – oder auch, je nach Blick auf die Nachbarn im Westen, niedlich, freiheitsliebend oder unkonventionell. Dabei ist letzteres ein Trugschluss – einer, der schon andeutet, dass sich hinter dem verbreiteten Mythos vom Fahrradland Niederlande überaus interessante Geschichten verbergen. Festzuhalten ist nämlich, dass hier zwar nicht sprichwörtlich jeder fietst, aber doch sehr viele, und vor allem Menschen aller sozialen Stände, egal ob Bäcker oder Banker.
Für Deutsche, die in die Niederlande kommen, gehörte das Fahrrad vor noch gar nicht langer Zeit zu den Standard-Themen erster Gespräche mit Einheimischen. Gar nicht mal wegen der eigenen Stereotype, sondern eher in Form von Bemerkungen, die an den Zweiten Weltkrieg referierten – und an die Räder, welche deutsche Besatzer damals entwendeten. „Dein Opa hat meinem sein Rad geklaut“, hieß es oft, oder: „Du schuldest mir noch ein fiets.“
Die Erwartung war, dass Deutsche darauf pikiert reagierten. Ich selbst musste während der klassischen Stationen einer NRW-Jugend – Haschisch kaufen in Maastricht oder zelten in Zeeland – immer eher lachen über die flapsigen Sprüche. Dass sich mir dadurch viele Türen öffneten, ist eine andere Geschichte. Für diese hier reicht die Feststellung, dass mir diese Aufziehereien gewissermaßen den Weg in dieses Land ebneten, in dem ich nun schon einige tausend Fahrrad-Kilometer in den Beinen habe.
A propos: 15 Milliarden Kilometer werden hier jedes Jahr auf diese Weise zurückgelegt. Pro Nase sind das 880 Kilometer, knapp zweieinhalb täglich. Fast ein Viertel aller Fortbewegungen geschieht mit dem Rad. Es gibt geschätzte 22,9 Millionen fietsen in den Niederlanden– bei einer Bevölkerungszahl von knapp 17,5 Millionen. Vor Corona wurden in der hiesigen Fahrradindustrie
1,2 Milliarden Euro im Jahr umgesetzt. „Das Fahrrad ist Teil der nationalen Kultur. Der Ursprung liegt im relativ homogenen und egalitären Charakter der niederländischen Gesellschaft“, erklärt Ramon Spaaij, Sportsoziologie-Professor an der Universiteit van Amsterdam und der Victoria University in Melbourne. „Der soziale Abstand zwischen den Klassen war relativ klein, weshalb die Eliten sich nicht allzuviel durch Statussymbole auszeichneten und einen eher nüchternen Lebensstil pflegten. Dazu passte das Fahrrad perfekt, als einfaches, nüchternes Fortbewegungsmittel. Die niedrigeren Klassen übernahmen dies. So wurde es zu einem Symbol der nationalen Identität. Mark Rutte auf dem Rad, das passt in dieses Bild.“
Zum Massen-Fortbewegungsmittel, so der Soziologe, wurde das Fahrrad auch durch Geographie und Besiedlung: die flache Landschaft und die eher kurzen Abstände. Dazu kamen Kampagnen des ANWB, des niederländischen Gegenstücks zum ADAC. Bemerkenswert ist im Übrigen, dass der heutige Automobilistenclub 1883 im Radler-Milieu gegründet wurde – als Algemene Nederlandsche Wielrijders-Bond. „Auch Marken wie Gazelle promoteten das Radfahren, und mit den Jahren legte der Staat mehr Radwege an“, so Spaaij.
Dass Letzteres kein Selbstläufer war, verschwindet oft hinter dem Image des Vorzeige-Fahrradlands. Martijn van Es, Sprecher des Fietsersbond, betont: „Wir haben dafür wirklich gekämpft. Zwar wurde Fahrradfahren im frühen 20. Jahrhundert ein Massen-Phänomen. Aber in de n 1970ern war das Auto verkehrstechnisch der Gewinner. Es gab viel mehr Verkehrsopfer als heute. Selbst Sozialdemokraten forderten damals, Arbeiter müssten ihr Auto bezahlen können. Erst in dieser Zeit gab es mehr Aufmerksamkeit für das Radfahren. In den 1980er- und 90er-Jahren wuchs dann auch das ökologische Bewusstsein, und man investierte in die Fahrrad-Infrastruktur. Aber die breiten, asphaltierten Radwege überall, das ist vor allem etwas aus den letzten 15, 20 Jahren.“
Zweifellos wird sich diese Entwicklung fortsetzen: In den Städten entstehen derzeit Zehntausende Fahrrad-Parkplätze, man arbeitet an einem Netz von ,fietssnelwegen’, also Schnell-Verbindungen über größere Distanzen, nicht zuletzt um Pendler dazu zu bringen, aufs Fahrrad umzusteigen. „Das hilft der Umwelt, ist gut für die Gesundheit und vermindert Staus“, heißt es im letzten Koalitionsvertrag. Wenn dieser Plan aufgeht, kommen noch einmal 200.000 Radler hinzu. Damit einher geht, dass die Fahrräder selbst immer diverser werden. Die malerischen Postkartenmotive mit den guten, alten und weiterhin beliebten oma-fietsen (oder auch Holland-Räder) ändern nichts daran, dass sich E-Bikes auch hierzulande am besten verkaufen. Dazu kommen Trends wie die schon sprichwörtlichen bakfietsen (Lastenräder) mit denen gut verdienende urbane Eltern den Nachwuchs herumkurven. „Und dann bestellen sie auf einer Café-Terrasse Soja-Latte oder Ingwer-Tee. Ein ziemliches YuppieDing“, kommentiert Ramon Spaaij augenzwinkernd.
Der niederländischen Beziehung zum fiets wird man derweil nicht gerecht, ohne auch einen Blick auf die Sparte der Rennräder und ihrer Fahrer zu werfen. Im Unterschied zu Deutschland fällt auf, dass etwa die Tour de France nicht nur dann viele Menschen vor den Fernseher zieht, wenn einheimische Fahrer in der Spitze mitmischen. Was schon daran liegt, dass Niederländern das ländliche Frankreich von all den Camping-Urlauben wesentlich vertrauter ist. Hinzu kommt, dass man am Wochenende überall im Land kleine Gruppen bunt gekleideter Liebhaber auf ihrem racefiets antrifft – was freilich wie „reesfiets“gesprochen wird.
Einer von ihnen ist mein guter Freund Rudolph, der auch in Pandemie-Zeiten und mit 82 noch Touren um Amsterdam herum unternimmt. Mit Anfang 70 wagte er sich selbst mit seinem Fahrrad-Kumpel Henk noch an den Mont Ventoux – jenen legendären kahlen 2000 Meter-Berg, wo bei der Tour 1967 der Brite Tom Simpson starb. Rudolph schrieb über ihr Abenteuer ein eindringliches Gedicht, dem der Schweiß aus jeder Silbe quillt. Die Steigung beschreibt er so: „Elf Prozent Unmenschlichkeit“.
Eines Abends, nachdem er für uns gekocht hatte, nahm mich Rudolph mit in seinen Keller. Stolz zeigte er mir sein nagelneues racefiets, ein Prachtstück, finanziert mithilfe seines Sohnes. Und dann stellte er mich seinem treuen, alten Presto vor, 1979 gekauft, das ihn unter anderem fünf Mal rund ums Ijsselmeer und über zahlreiche gemeine „Wadenbeißer-Hügel“im Süden des Landes trug. „Das ist und bleibt mein maatje (Kumpel)“, sagt er noch heute, und das klingt fast zärtlich.
Was nun andere Länder wie Deutschland vom niederländischen Vorbild lernen können? Martijn van Es hat einige Empfehlungen, denn die Expertise seines Fietsersbond ist im Ausland gefragt. „Nicht soviel Entweder-Oder-Denken. Investitionen in Auto- und Fahrradinfrastruktur kann gut zusammengehen. Einen guten Dialog mit dem ADAC stimulieren. Und man muss Initiativen ergreifen: Die Dinge passieren nicht von selbst. Aber am allerwichtigsten ist es, Radfahrer bei der Planung von vorne herein miteinzubeziehen. Das ist viel besser, als nachher die Ergebnisse an sie anzupassen.”