Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Jesus war einer von uns“
Die Pandemie wird die Kirche nach den Worten des Paderborner Erzbischofs verändern: Sie wird in dieser Zeit demütiger, einfacher und menschenfreundlicher – und sich auf das besinnen, was sie eigentlich ausmacht.
Herr Becker, Ostern ist inklusive der Karwoche ein Wechselbad der Gefühle: zwischen der Hochstimmung des Einzugs Jesu in Jerusalem, der Kreuzigung und Auferstehung. Ist das eine Erfahrung auch unserer Existenz, an deren Ende die große Hoffnung auf Erlösung steht?
BECKER Sie sprechen einen wichtigen Aspekt an. Manche Kulturgeschichtler sagen, in der Frühgeschichte der Menschheit habe sich die Frage nach Gott zuerst am Schicksal der Verstorbenen entzündet: Kann dieser Mensch, den ich einmal geliebt habe, plötzlich nur noch Staub sein – oder gibt es eine Macht, die ihn retten kann? Für uns Christinnen und Christen wird diese Frage in der Dramatik des Ostergeschehens beantwortet. Jesus war einer von uns, er ging alle unsere Wege mit. Nichts Menschliches blieb ihm fremd: der Jubel der Menge, die Niederlage, die Erfahrung des Scheiterns, die Katastrophe des Todes. Wir vertrauen darauf, dass Gott mit ihm unser Geschick wendet, sodass der Tod nicht mehr das letzte Wort hat. Ohne die Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung wäre unser christlicher Glaube letztlich sinnlos – wie auch immer man sich das Weiterleben nach dem Tod konkret vorstellen mag.
Kann es auch ein Sinnbild für die aktuelle Lage der Kirche sein?
BECKER Der Zustand der Kirche bei uns ist in vielerlei Hinsicht tatsächlich nicht gut. Da gibt es nichts zu beschönigen. Es hat Versagen, Fehlverhalten und auch schlimme Verbrechen gegeben. Durch Machtmissbrauch gab es ein erschreckendes Ausmaß an Gewalt. Aus falscher Sorge um das Ansehen der Kirche wurden die Täter geschützt und wurde häufig den Betroffenen nicht genügend Schutz gewährt. Ich selbst empfinde eine große Scham, dass so viel Leid und Unrecht geschehen konnte, auf ganz verschiedenen Ebenen.
Fragen Sie sich manchmal, was Jesus nicht nur zur aktuellen Situation der Kirche sagen würde, sondern auch zu ihrer Gestalt?
BECKER Der Geist Jesu hält in der Kirche seit über 2000 Jahren das Gedächtnis von Tod und Auferstehung lebendig. Wenn nicht von Anfang an in der Kirche Eucharistie gefeiert worden wäre und die Kirche die Worte und Taten nicht tradiert und bezeugt hätte, hätte sich die Botschaft nicht erhalten. Jesus war aber immer auch Realist, was die, sagen wir einmal, Kompetenzen seiner Mitarbeiter anging. Er hatte einen Stab von Aposteln um sich, die nach rein menschlichem Ermessen schon damals völlig überfordert für diese große Aufgabe schienen, die auch erhebliche Zweifel und Angst hatten und in entscheidenden Situationen versagten. Wir würden heute vielleicht sogar sagen: Es waren Verlierertypen. Mit ihnen an der Spitze hätte die Kirche eigentlich von Anfang an scheitern müssen. Und doch hat Jesus sich auf sie eingelassen, und sie sind ihm letztlich bis in den Tod gefolgt. Die Menschen sind, wie sie sind, und das wird sich auch nicht ändern.
Steht durch die Pandemie auch der Kirche ein Epochenwandel bevor?
BECKER Natürlich. Das war aber historisch immer so nach solchen Katastrophen. Die Pest hat Europa im 14. Jahrhundert unglaublich verändert, sie steht quasi am Beginn des Umbruchs vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Es hat sich aber immer wieder gezeigt, dass wir als Kirche dort gebraucht werden oder stark sind, wo die Menschen nach konkreter Hilfe und Seelsorge fragen. Wir können auch in dieser Zeit das leben, was unser Auftrag ist: Gottes- und Nächstenliebe. Ich denke, als Christinnen und Christen sind wir jetzt zu diesem Zeugnis sogar besonders herausgefordert. Die Kirche wird in dieser Zeit demütiger, einfacher und menschenfreundlicher werden und sich auf das besinnen, was sie eigentlich ausmacht. Die Hoffnungsgeschichten der Bibel werden ihre Relevanz für die Menschen jedenfalls nicht verlieren. Es wird sich zeigen: Die Kirche wird gebraucht, und sie darf sich nicht verstecken.
Warum schauen aber viele so ängstlich auf die Zukunft von Kirche und Glauben? Warum fehlen die Kraft und der Mut, eine breite
Aufbruchsstimmung zu initiieren und unter die Menschen zu tragen?
BECKER Ja, es gibt tatsächlich eine gewisse Ermüdung. Aber das gilt für uns alle, für die Öffentlichkeit, die Politik, die Schulen. Corona hat uns müde gemacht. Wir müssen jetzt den Anschlussstecker finden. Das ist ein Bild, das ich in dieser Zeit häufiger gebrauche. Der Stecker wird nicht in die Steckdose vom Februar 2020 passen, aber wir werden neu starten. Das Leben wird weitergehen, aber anders. Corona wird uns verändert haben, und wir müssen neu und behutsam aufeinander zugehen. Corona als Gast wird wahrscheinlich bleiben. Und wer sagt uns, dass nicht weitere schwierige Gäste folgen? Die Probleme werden nicht kleiner, auch für die Kirche nicht. Aber wir können für die Menschen da sein, von unserer Hoffnung erzählen und unseren Glauben feiern. Ich finde, das ist nicht wenig.
Bei der Frage nach Gründen sexualisierter Gewalt durch Priester werden immer wieder systemische Ursachen genannt. Was muss sich ändern? Wie viel Zeit wird die Kirche dafür überhaupt noch haben, um glaubhaft zu bleiben?
BECKER Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu. Wir wissen aus heutiger Sicht, dass der Missbrauch auch systemische Gründe hat. Das wird eingehend wissenschaftlich untersucht. Seit der Veröffentlichung der Missbrauchsstudie hat sich viel getan. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, hat ausdrücklich auf die Vorreiterrolle der katholischen Kirche bei der Aufarbeitung in Deutschland verwiesen. Ich möchte unsere Schuld dadurch nicht kleinreden, ganz im Gegenteil, aber wir sind auf einem richtigen Weg, die Ursachen zu bekämpfen. Wir müssen den sexuellen Missbrauch in der Kirche weiter konsequent verfolgen und nach Kräften versuchen, ihn zu verhindern. Die Opfer müssen oberste Priorität haben, nicht der Schutz der Institution. Aber der Kampf gegen Missbrauch aller Art und die Aufarbeitung sind auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das müssen wir alle zunehmend erkennen, und da wollen wir uns als Kirche auch weiter einbringen.
Sie gehören zu den älteren Ortsbischöfen und haben darum die katholische Kirche in Deutschland noch als echte Volkskirche erlebt. Wie würden Sie die Kirchengestalt der Zukunft beschreiben?
BECKER Es hilft nicht, dass wir ins Jammern verfallen und einen Zustand herbeisehnen, den es in dieser Form auch in meiner Jugend schon nicht mehr so gab. Pater Alfred Delp hat schon in den 40er-Jahren gesagt: „Wir sind ein Missionsland geworden.“In Deutschland gehören nur noch etwa 52 Prozent einer der beiden großen Kirchen an, in den neuen Bundesländern liegt der Anteil der Konfessionslosen um die 80 Prozent. Der Bischof von Magdeburg, Gerhard Feige, hat von uns Christen als einer „kreativen Minderheit“gesprochen. Diese Chance haben wir jetzt: neue Möglichkeiten zu suchen, wieder näher bei den Menschen zu sein und sie mit Jesus Christus in Berührung zu bringen. Ich persönlich erlebe diese Entwicklung mit gelassener Zuversicht. Wenn wir auf dem Weg in eine universale Diaspora sind, dann müssen wir das so annehmen. Die Kirche ist eine Baustelle, die umgestaltet werden muss und auch kann. Das ist nicht das Ende der Welt. Es geht nicht um Selbsterhalt, sondern um unseren Dienst an den Menschen. Ich habe immer davor gewarnt, dass wir uns nicht zu sehr mit uns selbst beschäftigen dürfen. Es geht nicht nur um eine Reform der Strukturen. Es geht um eine Reform unserer Herzen, in der Kirche vor allem, aber auch in der Gesellschaft. Am wenigsten brauchen wir jetzt einen, ich will mal sagen: fiebrigen Aktivismus. Niemand von uns weiß, wie das Leben weitergehen wird. Aber wir vertrauen darauf, dass Jesus Christus uns vorausgeht und uns mitnimmt. Das sind die Glaubenserfahrung und das Glaubenszeugnis der Christinnen und Christen seit dem ersten Osterfest, also seit fast zwei Jahrtausenden.