Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Zynisch anmutendes Spiel mit den Nöten der Leute
In der Krise verliert die große Politik die Bürger und Verantwortliche an der Basis. Bestes Beispiel ist das Impfen der über 60-Jährigen.
Ostern 2020 war die Sorge groß. Solingen befand sich seit Wochen im ersten Corona-Lockdown – und so manchem schwante, dass die Krise wohl hart würde. Wobei die meisten die Schäden vor allem in der Wirtschaft verorteten. Schließlich war bereits damals deutlich, wie Geschäftsleute unter den faktischen Berufsverboten litten.
Gleichwohl zogen die Bürger mit. Denn noch herrschte die Überzeugung vor, „die da oben“würden ihren Job schon erledigen. Davon ist nun jedoch keine Rede mehr. Über ein Jahr nach Beginn der Corona-Krise gehen Stadt und Land mittlerweile in den sechsten
MARTIN OBERPRILLER
Monat des zweiten Lockdowns. Und angesichts von Impf-, Testund Kommunikationsdesaster, nach wie vor fehlenden Konzepten und allein in Solingen fast 160 Toten sind die angerichteten Schäden mittlerweile riesig.
Gleichzeitig beweisen Bund und Land täglich, dass immer noch etwas mehr geht an Chaos, Unvermögen, Empathielosigkeit. Das Impfen für über 60-Jährige ab dem Wochenende ist das beste Beispiel. Weil trotz des teilweisen AstraZeneca-Impfstopps bei Jungen weiter viel zu wenig Vakzine da sind, hebt das Land einfach die Priorisierung auf. Frei nach dem Motto: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Oder besser: Ab sofort ist Gesundheit ein zynisches Lotteriespiel. Denn klar ist doch schon heute, dass viele Menschen, die Angst um ihr Leben haben, bei der Hotline wieder nicht durchkommen und enttäuscht werden.
Oberbürgermeister Tim Kurzbach nennt das Vorgehen zurecht ein „Windhundrennen“. Dabei zeigen die Worte des OB, dass sich an der Basis zur Sorge längst auch Wut gesellt. Woanders scheint man hingegen den Ernst der Lage immer noch nicht zu erfassen. So wurde am Donnerstag bekannt, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (71 / CSU) – man kann es kaum erfinden – für sich AstraZeneca
als Impfstoff ablehnt, während sich sein Parteifreund, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, mit NRW-Kollege Armin Laschet ein bizarres und in Form sowie Zeitpunkt unangebrachtes Duell um die Kanzlerkandidatur der Union liefert.
Die Nöte der Menschen sind derweil andere. Wird niemand aus der Familie infiziert ? Behält man den Job? Wann kann man mal wieder Freunde treffen? Ostern 2021 ist das zweite Osterfest, das im Ausnahmezustand stattfindet. Die Stadt Solingen hat angekündigt, an den Feiertagen zwar zu kontrollieren, aber das Maß zu halten. Das ist eine gute Entscheidung.