Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Nach der Pandemie?
In Israel kehrt nach erfolgreichen Corona-Massenimpfungen so etwas wie normaler Alltag zurück. Doch viele Menschen im Land glauben nicht, dass die Krise überwunden ist.
TEL AVIV „Keine Zeit“, sagt der Besitzer des „Übercafé“in der Levontinstraße im Zentrum Tel Avivs, hebt kurz entschuldigend die Schultern, dass er gerade keine Auskunft geben kann, und läuft dann weiter durch das Lokal, in dem sich vor dem Tresen eine Schlange gebildet hat. Ein Mann mit Tattoo auf dem Unterarm bedient in atemberaubender Geschwindigkeit die Espressomaschine, holt Sandwiches aus der Glasvitrine und zieht Kreditkarten durch den Kartenleser. Mein Handy macht ein Zimbelgeräusch: Eine Freundin aus Bremen schreibt, dass sie zwar neidisch sei, aber trotzdem wissen möchte, wie es mir geht. Und ob ihre Vorstellung, dass mein Leben vor allem daraus bestehe, geimpft in der Sonne zu sitzen, der Realität entspreche. Ich nehme mir vor, später zu antworten, lege Trinkgeld auf den Tisch und trinke den Cappuccino aus.
Ohne Masken in den Gesichtern der Menschen sähe es in dieser Momentaufnahme im März 2021 in der Levontinstraße Tel Avivs wirklich so aus, als hätte es Corona nie gegeben. Die Tische vor den Cafés sind voll. Um drinnen zu sitzen, in Restaurants oder Cafés, braucht man einen grünen Impfpass, doch an diesem Morgen sitzen die überwiegend jungen Leute ohnehin draußen und genießen die 20 Grad bei strahlendem Sonnenschein. Kinder kreischen vom Spielplatz herüber, nur vereinzelt biegen einige Autos von der überfüllten Allenby-Straße ab, und übertönen das Vogelgezwitscher.
Eine Gruppe junger Menschen auf der anderen Straßenseite lässt sich von einem Touristenführer die Architektur der Straße erklären. Die Levontinstraße liegt zwischen dem lauten, heruntergekommenen Viertel des alten Busbahnhofs im südlichen Tel Aviv und dem zentral gelegenen stolzen, Rothschild Boulevard. Bauten des Bauhauses – in einem solchen ist das „Übercafé“zu Hause – liegen neben Häusern im Stile des Art Nouveau und Art Decó, gebaut von reichen Neueinwanderern in den 1920er-Jahren. Mit den Jahren verfielen die Bauten, die Gegend wurde ein Zentrum für Drogen und Prostitution, bis vor einigen Jahren eine Gentrifizierungswelle begann. Seitdem reihen sich Cafés, Friseure, Blumenläden und Modeboutiquen in prachtvoll renovierten Gebäuden aneinander.
Die Tour findet auf Hebräisch statt. Es gibt keinen Bedarf für englischsprachige Touren – noch nicht. Noch ist der Flughafen nur teilweise für Nicht-Israelis geöffnet.
Anfang März hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender Fox verkündet, dass Israel das erste Land weltweit sei, dass die Coronakrise hinter sich lässt. Der frühere Coronavirus-Beauftragte Ronni Gamzu pflichtete ihm bei: Israel habe Corona als Pandemie hinter sich gelassen. Für viele Menschen in Europa klingt das wie ein schöner Traum. Doch wenn auch ein Ruck der Erleichterung durch das Land geht – es gibt so einige Scherben, die zusammengekehrt werden müssen. Und das Vertrauen in die neue Freiheit ist nicht groß.
Sherry Shami Keren hat Glück gehabt. Sie verkauft nicht nur in ihrem Geschäft in der Levontinstraße Düfte und Kerzen, sondern hat auch einen Online-Vertrieb, der auch während der Lockdowns weiterlaufen konnte. Auch die Cafés in dieser Straße sind mit einem blauen Auge davon gekommen; viele haben sich mit Take-away über Wasser halten können. Insgesamt jedoch mussten in Israel laut Tomer Mor vom israelischen Restaurantverband insgesamt 4000 Restaurants und Cafés schließen. Shami Keren nickt die Straße hinauf. Das Modegeschäft ziehe bald um, sie glaube, wegen finanzieller Probleme.
Dessen Besitzerin ist kurz angebunden. Erst einige Tagen hat sie die Fußmatte wieder vor das Geschäft legen und Kunden hineinlassen dürfen. Jetzt hofft sie, dass das so bleibt. „Ob ich optimistisch bin?“, fragt die Mittfünfzigerin und drapiert eine Tunika im Schaufenster: „Natürlich!“Sie meint es nicht ironisch. Aggressiv klingt es trotzdem. Israel ist das Land, das weltweit am meisten Zeit im Lockdown verbrachte – und dennoch für lange Zeit ebenfalls die Tabelle in Neuinfektionen anführte.
„Wer hatte denn keine Probleme?“
Inhaberin einer Modeboutique
„Natürlich waren die Lockdowns ein finanzielles Problem. Wer hatte denn kein Problem?“Mehr ist aus ihr nicht herauszubekommen. Stattdessen zieht sie scharf an meinem Fuß vorbei den Wischmopp über den Boden. „Es ist alles eine Sache der Einstellung. Man muss Vitamin D nehmen“, sagt sie und lässt den Wischmop weiter wirbeln: „In der Sonne sitzen. Das hilft am besten gegen Corona.“
Ido Avinoam läuft am Geschäft vorbei, er sucht mit seiner Freundin nach einem Café. Er ist nicht wütend, eher verstört. Er ist erst vor Kurzem von London zurück in seine Heimatstadt Tel Aviv gezogen und kann noch immer nicht recht glauben, wie Israel in der Corona-Pandemie mit persönlichen Freiheitsrechten umgegangen ist. Wie etwa der Shabak, der Innengeheimdienst die Standorte sämtlicher israelischer Telefone überwacht hat und auf Basis dessen QuarantäneAnweisungen ausgegeben hat.
Wie viele Israelis hält er die Tatsache, dass gerade alles geöffnet wird, für hauptsächlich politisch motiviert. „Kurz vor der Wahl hat Bibi alles aufgemacht und gesagt: ‚Corona ist vorbei‘“, sagt er und klatscht einmal mit den Händen: „Es wird mich nicht wundern, wenn er jezuz kurz nach den Wahlen – den vierten in zwei Jahren – einen neuen Lockdown verhängt.“Benjamin „Bibi“Netanjahu steht derzeit in drei Korruptionsfällen vor Gericht.
Allgemein ist das Vertrauen in die neue Freiheit nicht sehr groß. Israel blickt zurück auf ein Jahr chaotischer Corona-Politik, bei der der Graben zwischen Säkularen und Ultraorthodoxen immer tiefer wurde. Während in Tel Avivs zahlreiche Spaziergänger wegen fehlender Maske Bußgeld zahlen mussten, gab es in ultraorthodoxen Zentren regelmäßig Massenansammlungen von Tausenden Strengreligiösen, bei denen die Polizei entweder hilflos danebenstand oder gar nicht erst anreiste. Es gibt kaum jemanden, der dies nicht mit Netanjahus Bemühen zusammenbringen würde, seine ultraorthodoxen Bündnispartner nicht zu verprellen.
„Leben denken wir hier mittlerweile in Kategorien von ‚Rein in den Lockdown – raus aus dem Lockdown’“, erzählt auch Daphna Arad auf einem Antik- und Trödelmarkt in der Nähe der „Cinemateque“. Arad ist entschieden aufseiten des Anti„Bibi“-Lagers. Doch bei aller Kritik kennt sie mittlerweile auch das Gefühl, auf widerwillige Weise froh zu sein, dass Netanjahu Ministerpräsident ist – angesichts der Tatsache, dass inzwischen mehr als 55 Prozent der Israelis die erste Spritze des Biontech/Pfizer-Vakzins erhalten haben und mehr als 44 Prozent die zweite. Nur etwas mehr als eine Million Israelis über 16 Jahren müssen noch geimpft werden. „Glücklicherweise sind Netanjahu und seine Frau Sara Hypochonder“, sagt sie und lacht: „Zumindest wird ihnen das nachgesagt.
Andere Kritiker werfen Netanjahu vielmehr vor, sich mit der großangelegten Impfkampagne als Retter der Nation zu rühmen, als sei es sein persönliches Verdienst. Netanjahu weist immer wieder darauf hin, Albert Bourla, den Besitzer des Pharmakonzerns Pfizer, der Israel mit ausreichend Impfstoffdosen für alle belieferte, zahllose Male persönlich angerufen zu haben. Ob der Ministerpräsident all dies wegen des Korruptionsprozesses gegen ihn getan hat? Wegen seiner verzweifelten Bemühungen, die Wahlen zu gewinnen? Arad zuckt mit den Achseln: „Zwei Gründe unter vielen“, sagte sie.
Arad vermisst Menschenansammlungen. Dabei sind sie von offizieller Seite mehr und mehr erlaubt. Vor Kurzem durften zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie 1500 geimpfte Fußballfans im Stadion ihre Spieler anfeuern. Theater dürfen unter bestimmten Bedingungen bereits öffnen, allerdings brauchen die größeren noch Vorbereitungszeit. Auch Clubs sollen wieder öffnen, wenn der Trend mit fallenden Infektionszahlen weitergeht.
Doch Arad ist skeptisch: „Obwohl ich geimpft bin, kann ich jetzt nicht zurück in Bars ohne zu denken, dass um mich herum lauter Virusträger sind. Ich vertraue dem Leben nicht mehr so recht.“Ist sie optimistisch, dass es bald wieder so kommen wird? Sie hofft es. „Aber man kann eben die Corona-Pandemie nicht innerhalb von einer Minute mit einer Regierungsentscheidung auflösen.“
Doch es gibt auch die, die gar nicht recht zurückwollen in das Tel Aviver Nachtleben, oder sich zumindest sorgen, dass eine ihrer Ängste zurückkommen könnte: „Fomo“– Fear of missing out. Die Angst, etwas zu verpassen. So auch Avi Ben Shoshan und Mattan Jenossar, die abseits der Cafés auf Hochstühlen am Rande
„Ich vertraue dem Leben
nicht mehr so recht“
Daphna Arad aus Tel Aviv
des Platzes sitzen, auf dem vorhin noch die Bauhaus-Tour-Gruppe stand. Warum hier, wo doch alles wieder offen ist?
„Wir wollten etwas privat besprechen“, sagt Ben Shoshan. Er ist Designer, auch die zwei Kaffeetassen auf dem Tisch hat er entworfen. „Natürlich ist es irgendwie schön, dass alles wieder offen ist“, erzählt Jenossar: „Aber eigentlich kommt es mir jetzt absurd vor, für 40 Schekel – umgerechnet zehn Euro – ein Sandwich im Café zu kaufen.“Die ganzen Lockdowns über ist sie mit Freunden draußen spazieren gegangen, hat sich im Freien getroffen und an öffentlichen Plätzen gesessen, so wie jetzt mit ihrer Kaffeetasse in der Hand. Tatsächlich gibt es einen unschlagbaren Vorteil Israels gegenüber europäischen Ländern in der Corona-Pandemie im Winter: In Israel kann man sich den ganzen Winter hindurch draußen treffen, sieht man von einigen Regentagen ab.
Jenossar hat sich bisher nicht impfen lassen, so wie eine ganze Reihe junger Israelis mit antiautoritärem Gestus, aber nicht ganz klarer Argumentation. Der grüne Pass soll von staatlicher Seite wohl auch dabei helfen, die Skeptiker zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Für Ben Shoshan hat es funktioniert: „Ich bin geimpft. Allein deshalb, weil ich wieder ins Schwimmbad gehen will.“Ob Israels Möglichkeit, Herdenimmunität zu erreichen, auch an Leuten wie Jenossar hängt, ist unklar. Entscheidender dürfte die Frage sein, ob bald nicht nur über 16-Jährige, sondern auch über Zwölfjährige geimpft werden können.
Ich hole mein Handy raus und tippe eine Nachricht. „Geimpft bin ich, die Sonne scheint, alles andere ist unklar“, schreibe ich meiner Freundin aus Bremen.