Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Jerusalem feiert sein zweites Osterfest in der Pandemie. Noch werden keine Pilger in die Heilige Stadt strömen. Doch alle hoffen auf ihre baldige Rückkehr.
Die Basilika ist grabesstill. Einsam kniet eine stumme Gläubige im Weihrauch vor dem Salbungsstein. Sie presst ihr mit einer Schutzmaske bedecktes Gesicht gegen die von Abertausenden Pilgern blankgeküsste Marmorplatte. An ihrer Stelle beweinte der Überlieferung nach die schmerzerfüllte Gottesmutter den Leichnam ihres gekreuzigten Sohns.
Das Gesicht der Betenden ruht minutenlang auf dem Stein. Ein Augenblick stiller Andacht wie dieser schien in der Jerusalemer Grabeskirche, dem Allerheiligsten der Christenheit, lange unvorstellbar. Vor der Pandemie drängten sich hier Tag für Tag Tausende um den Salbungsstein.
2019 war für den Israel-Tourismus ein Rekordjahr. Damals kamen über 4,5 Millionen, rund die Hälfte davon Christen. Fast alle von ihnen besuchten Jerusalem, ein Drittel im Rahmen einer Pilgerreise. Mit der Schließung des Landes für den Tourismus im März
2020 war der Boom schlagartig beendet.
„Ich habe zwiespältige Gefühle, wenn ich gerade durch die Grabeskirche gehe“, sagt Pater Athanasius Macora. „Ich mag die Menschenmassen eigentlich nicht, gerade an Ostern.“Die Schritte des Franziskaners hallen in dem fast menschenleeren Kuppelbau über dem Heiligen Grab. „Wir wollen alle die Pilger zurück und brauchen auch die Einkünfte. Andererseits gab es durch den Ansturm bis zu Beginn der Pandemie hier ständig Spannungen und Konflikte.“Bis das Virus den Pilgerstrom von einem auf den anderen Tag zum erliegen brachte, war Pater Athanasias für die Franziskaner als Schlichter bei Rangeleieien zwischen Pilgern zuständig.
„In den Menschenschlangen gab es Streit und Schreiereien. Touristenführer kämpften darum, wessen Gruppe zuerst kommt“, sagt der Texaner, der seit 1988 in Jerusalem lebt. „Jetzt ist das alles vorbei und wir haben plötzlich Zeit für Spiritualität und darüber nachzudenken, was gerade passiert“, fährt er weiter fort.
„Nie habe ich Jerusalem so erlebt“, sagt Eugenio Alliata bei einem Rundgang durch das menschenleere Terra-Sancta-Museum an der Via Dolorosa. „Selbst wenn es Krieg gab, waren immer Touristen und Pilger hier, wenn auch nur wenige.“Der 72-jährige Italiener kam 1979 als Bibelschüler nach Israel und leitet heute die archäologischen Sammlungen des Museums. „Wir hoffen, dass das Land sich langsam mit den nötigen Sicherheitsmaßnahmen wieder öffnet.“Wann Touristen – geimpft oder ungeimpft – wieder einreisen dürfen, kann derzeit niemand sagen.
„Wir hoffen, zu Beginn des Sommers“, sagt Noga Sher-Greco, die für religiöse Reisen zuständige Direktorin im israelischen Tourismusministerium. „Die Pilger werden sicher zu den Ersten gehören, die zurückkehren.“Zunächst werde es jedoch voraussichtlich nur für Kleingruppen Zugang zu den wichtigsten Pilgerstätten geben.
Israel verzeichnet bisher insgesamt mehr als 830.000 bestätigte Covid-19-Fälle, eine der höchsten Zahlen pro Einwohner im weltweiten Vergleich. Die schnell voranschreitenden Impfungen scheinen jedoch die Infektionskurve bisher tatsächlich kontinuierlich nach unten zu drücken. Mehr als 5,2 der rund 9 Millionen Israelis sind inzwischen geimpft, davon hat über die Hälfte bereits die zweite Dosis erhalten.
Nach bisherigem Stand sieht es ganz so aus, als werde Israel vorerst seinen Vorsprung im Wettlauf gegen das Virus weiter ausbauen.
An der Via Dolorosa gegenüber der armenisch-katholischen Kirche der Schmerzen Mariä erhebt sich der wuchtige Bau des Österreichischen Hospizes zur Heiligen Familie. Ende März sind die Kaffeetische auf der Terrasse des altehrwürdigen Pilgerhauses sonst oft auf allen Stühlen besetzt. Vor allem Gäste aus den deutschsprachigen Ländern unterhalten sich hier im Schatten von Palmen und Oleander nach einem anstrengenden Tag in den Gassen der Altstadt bei Kaffee, Apfelstrudel und Sachertorte. In diesem Frühjahr ist statt Deutsch vor allem Hebräisch zu hören, statt Kirchengruppen legen israelische Tagesausflügler eine Pause im seit kurzem wieder geöffneten Café des Hospizes ein.
„In 165 Jahren hat das Hospiz einiges erlebt. Wir haben Kriege, Intifada und Seuchen überstanden“, sagt Markus Stephan Bugnyár, der Rektor der Pilgerherberge. „aber dass es komplett leer steht, ist in der Hausgeschichte neu.“Für eine Jahr für Jahr wachsende Gästezahl hatte das Hospiz 2019 noch einen neuen Gästetrakt
eröffnet. „Wir sind in einen Massentourismus hineingeschlittert“, sagt der Priester aus dem Burgenland, „aber die fetten Jahre vor der Pandemie sind möglicherweise vorbei.“Trotz der finanziellen Notlage, versucht Bugnyár die aktuelle Situation auch positiv zu sehen. „Ich wünsche mir eine langsame Rückkehr der Pilger“, sagt er. „Im Vergleich zu früher haben wir die Chance, Pilger in wesentlich besserer Qualität mit dem Heiligen Land vertraut zu machen. Zuvor war das oft nicht mehr feierlich – im mehrfachen Sinne.“Mit einer Rückkehr der Gäste zu Pfingsten rechnet er jedoch nicht. „Es hilft uns nicht, wenn wir hier mehr als 90 Prozent der über 50-Jährigen geimpft haben, wenn es aber kein vergleichbares Land mit ähnlichen Zahlen gibt.“
Etwa eine Autostunde westlich von Jerusalem wandert Henri Gourinard entlang einer antiken Wasserleitung in ein Tal mit knorrigen Öl- und alten Mandelbäumen. Die Wiesen sind von mohnroten Kronen-Anemonen, sanft-violetten Persischen Alpenveilchen und anderen Wildblumen gesprenkelt. „Auf dem Emmaus-Weg können Pilger beides entdecken: die Kultur und die Natur zur Zeit Jesu“, sagt der französische Historiker, der am Jerusalemer Polis-Institut lehrt. Genau auf
diesem Weg zwischen Jerusalem und dem Ort, der vielen als das biblische Emmaus gilt, soll der auferstandene Jesus zwei seiner Jünger am Ostertag begleitet haben. Die beiden Trauernden erkannten ihren gekreuzigten Rabbi nicht, berichtet der Evangelist Lukas.
Gourinard ist einer der Initiatoren des neueröffneten Emmaus-Wegs. Er hat einen Wanderführer geschrieben, der demnächst erscheinen soll. Nicht weit von der Stelle, wo Jesus der Überlieferung nach das Brot brach und sich so seinen beiden Weggefährten als Auferstandener offenbarte, blickt der Historiker in ein Felsengrab am Wegrand, das aus der Zeit des Neuen Testaments stammt. „Es gibt einen guten Eindruck von der Begräbnispraxis zur Zeit Jesu“, sagt Gourinard, „man kann noch gut die für die Toten bestimmten Steinbänke und eine Einkerbung erkennen, die wohl für eine Öllampe bestimmt war.“
Um das leere Grab ist es still. Nur ein Vogel zwitschert irgendwo in den Zweigen über dem Felsblock. „Gerade in diesen Zeiten steht ein Wanderweg wie der nach Emmaus auch für eine neue Form des Pilgertourismus“, sagt Gourinard. „Weg von Massenversammlungen an heiligen Orten hin zu einer spirituellen Erfahrung. Das wird in Zukunft sicher noch wichtiger werden.“