Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Können Ausgangssperren helfen?
Das Infektionsschutzgesetz will mit bundeseinheitlichen nächtlichen Ausgehverboten die dritte Corona-Welle brechen. Wissenschaftler haben Zweifel.
Die nächtlichen Ausgangssperren, die bald bundesweit für Kreise und Städte mit mehr als 100 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gelten sollen, sehen viele Epidemiologen und Infektionsforscher mit großer Skepsis. So erwartet der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig lediglich einen „moderaten Effekt“von nächtlichen Ausgangssperren. „Nur ein relativ geringer Teil der täglichen Kontakte fällt in den Zeitraum der Ausgangssperren, das lässt sich auch in Mobilitätsdaten erkennen“, sagte der stellvertretende Leiter der HZI-Abteilung Systemimmunologie unserer Redaktion. Weil viele Menschen ihre privaten Treffen dann einfach früher ansetzten, befürchtet der Forscher, dass sich nicht so viele Kontakte vermeiden ließen, „wie man sich das erhofft“.
Tatsächlich zielt die Maßnahme auf die Reduktion der Kontakte im privaten Bereich. Nach den Modellen des Berliner Mobilitätsforschers Kai Nagel wird eine Infektionsdynamik praktisch nur durch ungeschützte Kontakte in Innenräumen erzeugt. In der Bundeshauptstadt Berlin etwa sind zwischen 21 und fünf Uhr keine Zusammenkünfte im
Privaten mit haushaltsfremden Personen erlaubt. Die Menschen dürfen sich aber im Freien allein oder mit maximal einer weiteren Person aufhalten. Der Telematik-Professor der TU Berlin empfiehlt deshalb, die Regelung aus der Hauptstadt auch für die problematischen Regionen im Rest Deutschlands zu übernehmen. Das hätte deutlich stärkere Effekte als nächtliche Ausgangssperren.
Nagel hält wenig von der im geplanten Infektionsschutzgesetz weiterhin bestehenden Möglichkeit, an jedem Tag der Woche jeweils unterschiedliche, nicht zum eigenen Haushalt gehörende Personen ohne Schutzmaßnahmen zu empfangen. „Für besonders kritische Situationen empfehlen wir daher eine noch deutlichere Version der Kontaktbeschränkungen“, meint der gelernte Physiker. Wenn sich bei hohen Inzidenzen oder kritischer Situation in den Krankenhäusern Menschen mit haushaltsfremden Personen treffen wollen, sollten sie alle über einen gültigen Schnelltest oder Impfschutz verfügen. In Großbritannien waren in den harten Wochen des Lockdowns noch nicht einmal diese Ausnahmen erlaubt.
Der Modellrechner Jan Fuhrmann vom Forschungszentrum Jülich sieht bei nächtlichen Ausgangssperren zwei gegenläufige Effekte am Werk, die sich nicht genau simulieren lassen. Wenn Ausgangssperren dazu führten, dass Aktivitäten von draußen nach drinnen verlagert würden, „wären sie kontraproduktiv“, meint der Mathematiker. Denn die Übertragung der Infektion ist im Freien viel weniger wahrscheinlich als in privaten Räumen. Aerosole, eine der Hauptwege der Infektion, verflüchtigen sich draußen recht schnell, während sie in geschlossenen Räumen verbleiben. Allerdings weist der Wissenschaftler darauf hin, dass die nächtlichen Ausgangssperren vor allem private Treffen vermindern sollen. Das wäre dann der gegenläufige Effekt. „Leider wissen wir aber nicht genau, wie stark diese beiden gegenläufigen Effekte sein werden“, meint Fuhrmann.
Am deutlichsten lehnt der Kölner Infektiologe Matthias Schrappe, die Ausgehverbote ab. „Ausgangssperren bringen gar nichts. Sie können die dritte Welle nicht brechen. Sie sind in der Abwägung zwischen Gesundheitsvorsorge und Grundrechten keine geeignete und unabweisbare Maßnahme zur Infektionsbekämpfung“, findet der Medizin-Professor, der bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats in Gesundheitsfragen bei der Bundesregierung war.