Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Ausgangssp­erren erst ab 22 Uhr

Die Berliner Koalition einigt sich auf Änderungen am geplanten Corona-Infektions­schutzgese­tz. Ihr Ziel sind bundesweit einheitlic­he Regeln in Regionen mit Inzidenzwe­rten über 100. Die Grünen halten sie für nicht weitgehend genug, die FDP dagegen für zu u

- VON BIRGIT MARSCHALL UND JANA WOLF

Die bundesweit­en Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie sollen nach dem Willen der Koalitions­fraktionen von Union und SPD weniger streng ausfallen als von der Bundesregi­erung geplant. Nächtliche Ausgangsbe­schränkung­en soll es in Regionen mit Inzidenzwe­rten von über 100 Neuinfekti­onen nun zwischen 22 und fünf Uhr geben, nicht mehr bereits ab 21 Uhr. Joggen und Spaziergän­ge sollen bis Mitternach­t erlaubt sein.

Am Donnerstag wird sich auch der Bundesrat mit dem neuen Infektions­schutzgese­tz befassen. Aus Sicht der Bundesregi­erung ist es in der Länderkamm­er aber nicht zustimmung­spflichtig, sodass es von den Ländern nicht gestoppt werden kann. Verfassung­srechtler haben daran allerdings noch Zweifel. Alle Regelungen sind befristet bis zum 30. Juni. Ziel ist es, Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens bundesweit einheitlic­h zu regeln: Falls die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Stadt oder einem Landkreis drei Tage hintereina­nder über 100 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt, sollen dort jeweils die gleichen Regeln gelten. SPD-Fraktionsc­hef Rolf Mützenich erklärte, bei den Änderungen sei die Koalition auch auf Forderunge­n der Opposition eingegange­n. Grüne, FDP und Linke seien eingeladen, dem Gesetz zuzustimme­n, Die Grünen, die in elf Ländern mitregiere­n, wollen sich im Bundestag jedoch enthalten, weil ihnen die Regelungen nicht weit genug gehen. Auch die FDP will nicht zustimmen – allerdings aus umgekehrte­m Grund.

Im Einzelhand­el soll das Abholen bestellter Waren (Click & Collect) nach der Koalitions­vereinbaru­ng auch bei höheren Infektions­zahlen weiterhin möglich sein. Für Schulen soll Distanzunt­erricht ab einem Inzidenzwe­rt von 165 bundesweit verpflicht­end werden. Im ursprüngli­chen Entwurf war hier ein Schwellenw­ert von 200 genannt worden. Für Kinder im Alter bis 14 Jahren soll Sport in Gruppen aber weiter möglich sein.

Arbeitgebe­r müssen künftig ihren Beschäftig­ten im Betrieb zwei Corona-Tests pro Woche bereitstel­len. Zudem soll es künftig eine gesetzlich­e Homeoffice-Pflicht geben.

Neu ist zudem, dass die Bundesregi­erung keine Verordnung­en zur Eindämmung der Pandemie am

Bundestag vorbei erlassen kann. Die alte Fassung des Gesetzentw­urfs sah vor, dass die Bundesregi­erung ermächtigt wird, „zur einheitlic­hen Festsetzun­g von Corona-Maßnahmen Rechtsvero­rdnungen mit Zustimmung des Bundesrate­s zu erlassen“.

Der rechtspoli­tische Sprecher der SPD-Bundestags­fraktion, Johannes Fechner, sieht die Position des Bundestage­s in der Pandemiebe­kämpfung dadurch gestärkt. „Rechtsvero­rdnungen mit weitergehe­nden Maßnahmen kann die Bundesregi­erung nur mit Zustimmung des Bundestage­s einführen. Auch in der Pandemie hat also der Bundestag bei allen wesentlich­en Fragen das letzte Wort“, sagte Fechner.

Die Grünen kritisiert­en die Änderungen als nicht weitgehend genug. „Die Pläne der Bundesregi­erung sind kein ausreichen­der Damm gegen die dritte Welle. Die Notbremse

wird zu spät und zu zögerlich gezogen“, sagte Gesundheit­ssprecher Janosch Dahmen. „Schon unterhalb einer Inzidenz von 100 brauchen wir konsequent­ere Schutzmaßn­ahmen. Statt auf symbolpoli­tische Maßnahmen wie Ausgangssp­erren zu setzen, wäre etwa ein Testpflich­t am Arbeitspla­tz

oder ein früheres Schließen von Schulen angebracht.“

Die Kommunen dagegen begrüßten die Änderungen. „Es ist richtig, die Ausgangsbe­schränkung­en erst ab 22 Uhr vorzusehen. Andernfall­s wären die Menschen alle zur selben Zeit abends noch in die Lebensmitt­elgeschäft­e geströmt“, sagte Gerd Landsberg, Hauptgesch­äftsführer des Gemeindebu­nds. Anders als in anderen EU-Ländern, wo es strikte Ausgangssp­erren auch tagsüber gegeben hatte, sei die deutsche Regelung lediglich eine lockere Ausgangsbe­schränkung, die viele Ausnahmen auch weiterhin zulasse.

„Wenn jetzt nicht sofort konsequent und bundeseinh­eitlich wieder für mehr Kontaktbes­chränkunge­n gesorgt wird, ist auch die Triage in den nächsten Wochen weiterhin nicht ausgeschlo­ssen“, warnte der frühere Chef des Intensivme­diziner-Verbandes Divi, Uwe Janssens.

„Die Triage ist das Schlimmste, was Ärztinnen und Ärzten passieren kann. Tragische Entscheidu­ngen von diesem Ausmaß darf man Ärzten nicht zumuten“, sagte Janssens. „Wir werden durch eine fehlerhaft­e Politik, durch politische­s Missmanage­ment seit einem Jahr in diese unsägliche Situation hineingetr­ieben, die mit den geeigneten Maßnahmen definitiv zu verhindern wäre“, sagte der Intensivme­diziner.

Auch Ärztepräsi­dent Klaus Reinhardt forderte konsequent­eres Handeln der Politik. „Bundeseinh­eitliche Regeln für eine Corona-Notbremse sind längst überfällig. Allerdings sollten wir neben dem Inzidenzwe­rt noch weitere Kriterien heranziehe­n, um diese Notbremse zu aktivieren“, sagte Reinhardt unserer Redaktion. Dazu zähle die Zahl der täglichen Neuaufnahm­en von Corona-Intensivpa­tienten sowie die Anzahl intensivpf­lichtiger Patienten.

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FOTO: IMAGO IMAGES/MICHAEL GSTETTENBA­UER Kontrollen in der Düsseldorf­er Altstadt.

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