Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Familien sind kreativ geworden“

Petra Wolf und Angelika Horn vom Kinderschu­tzbund sprechen über das Familienle­ben in der Pandemie.

- MELISSA WIENZEK FÜHRTE DAS GESPRÄCH

Frau Horn, Sie sind Sozialpäda­gogin, Frau Wolf, Sie sind Psychologi­n in der Familienbe­ratungsste­lle des Kinderschu­tzbundes. Hat die Pandemie Ihrer Meinung nach für steigende Fälle von häuslicher Gewalt gesorgt?

ANGELIKA HORN Das ist schwierig zu beantworte­n. Ich denke, mit Sicherheit wirkt sich die Pandemie auf Familien und die Situation zu Hause aus. Aber in welchem Maße häusliche Gewalt dabei eine Rolle spielt, mag ich nicht zu sagen. Ich habe bei Familien, die zu uns kommen, jedoch beobachtet, dass mehr Angstzustä­nde auftreten. Kinder, denen es vorher schon nicht gut ging, leiden in Corona-Zeiten noch mehr. Die Probleme haben sich einfach verstärkt.

PETRA WOLF Wir sind ja per se eher mit der Prävention beschäftig­t. Häusliche Gewalt kommt zwar immer mal wieder vor, war 2020 aber bei uns nicht unter den zehn drängendst­en Themen. Erziehungs­fragen oder Trennung sind eher unser Gebiet. Aber Angst ist zunehmend ein Thema, war es aber auch vorher schon. Für viele Kinder hat sich diese Angst durch die Pandemie verstärkt. Kinder haben Angst um Oma und Opa, Mama und Papa, Tod und Krankheit beschäftig­en sie.

HORN Kinder sehen ja auch jeden Tag in den Nachrichte­n die Zahl derer, die im Zusammenha­ng mit Covid-19 gestorben sind. Und wenn sie dann in der Schule oder in der Kita noch positiv getestet werden, macht das noch mehr Angst.

Warum sind Kinder gleich in mehrfacher Hinsicht die großen Verlierer?

WOLF Ich denke, das muss man differenzi­erter sehen. Resilienzf­orscher sagen, man sollte die momentanen Verhaltens­weisen nicht pathologis­ieren – sie können auch wieder weggehen, wenn sich die Zeiten ändern. Aber natürlich geht es Kindern nicht gut, wenn sie nicht mit anderen spielen können, Schulkamer­aden nicht treffen können. Ich habe aber auch ein paar Kinder in der Beratung, die die aktuelle Situation genießen. Zum Beispiel die, die gemobbt werden.

HORN Das entscheide­nde Thema ist nicht, dass Kinder zu wenig Schulstoff wegen des Lockdowns mitbekomme­n – natürlich ist das auch wichtig –, sondern das Beziehungs­defizit. Jugendlich­e sind in besonderem Maße betroffen und fühlen sich einsam. Jugendalte­r, die Zeit, in der sie sich treffen, andere kennenlern­en, flirten, sich ausprobier­en. Das ist alles so nicht mehr möglich. Ausbildung und Studium ohne den Kontakt zu Gleichaltr­igen verlaufen häufig frustriere­nd.

Sehen Sie gar die weitere Entwicklun­g dieser „Pandemie-Kinder“beeinträch­tigt?

WOLF Meine Erfahrung ist, dass die Kinder sehr gut mit der Corona-Pandemie umgehen. Manchmal unterschät­zen wir sie da auch. Eltern und Kinder sind durchaus kreativ geworden. Und manche Familien genießen es auch, dass sie mehr Zeit füreinande­r haben. Hat sich ein Kind vorher mit zehn anderen Kindern getroffen, sind es jetzt nur noch ein oder zwei. Das bewirkt aber auch eine besondere Bindung zwischen diesen befreundet­en Kindern. Wir müssen auch nicht alles, was wir empfinden, auf Kinder übertragen. Trotzdem gibt es natürlich auch Kinder, die es nicht gut damit haben, zum Beispiel, wenn sie kein eigenes Zimmer haben, in dem sie allein lernen können.

HORN Die Pandemie stellt eine Beeinträch­tigung dar, ganz klar, aber man kann auch etwas Positives für die Zukunft darin sehen: Kinder lernen den Wert der Beziehung wieder kennen – so wie wir Erwachsene­n auch. Kinder gehen mit Dingen wie der Maskenpfli­cht ganz selbstvers­tändlich um. Wir Erwachsene­n haben es in der Hand, wie wir ihnen diese Dinge nahebringe­n.

Welche Sorgen und Ängste haben die Familien, die sich an Sie wenden?

WOLF Im Bereich der Erziehungs­fragen unter anderem der Medienkons­um. Der ist deutlich gestiegen in den meisten Familien. Einige Eltern sehen die Problemati­k ein, einige aber auch nicht. Was 2020 interessan­t war: Waren die Schulen geöffnet, hatten wir auch vermehrt Schulprobl­ematiken in der Beratung.

HORN Die Familien kommen mit einem anders gearteten Thema hier an, Corona kommt dann noch erschweren­d hinzu. Kinder empfinden zum Beispiel momentan weniger Rückhalt in der Schule. Manche Erwachsene berichten von psychische­n Problemen oder einer starken Gewichtszu­nahme.

Homeschool­ing, nur Notbetreuu­ng in der Kita, Angst vor dem Arbeitspla­tzverlust – vor allem Alleinerzi­ehende sind stark gebeutelt.

WOLF Ja, vor allem für Alleinerzi­ehende ist die Pandemie eine ganz schwierige Situation. Sie haben ihre Arbeitszei­ten ja auf die Schul- und Kita-Zeiten abgestimmt. Sie wollen weiter Geld verdienen, können aber nicht. Das ist ein großes Problem. Das wirkt sich auch auf die Kinder aus: Sie fühlen sich lästig. Ich weiß nicht, wie manche Alleinerzi­ehende das durchstehe­n. Meine Bewunderun­g dafür.

HORN Ganz viele Eltern leisten Unglaublic­hes. Sie müssen gegen Widrigkeit­en kämpfen, die zusätzlich Stress machen. Ich finde es sehr beachtlich, was Familien seit über einem Jahr Pandemie leisten. Dass die Nerven dabei blankliege­n, ist völlig nachvollzi­ehbar. Hier zeigt sich aber auch ganz klar die Stärke der Kinder, sich auf die bestehende Situation gut einzustell­en. Die Gefahr darin ist aber, eben, weil sie sich so gut anpassen können, dass wir als Gesellscha­ft dann nicht realisiere­n: Was brauchen die Kinder denn eigentlich? Diese Auswirkung­en werden wir erst später sehen.

In diesem Zuge werden auch die Kinderrech­te wichtiger. Das Bundeskabi­nett hat beschlosse­n, diese im Grundgeset­z zu verankern. Welche Auswirkung­en hätte das auch auf Remscheid?

WOLF Wir hoffen, dass die Kinderrech­te im Zuge dessen immer mehr in den Fokus rücken, zum Beispiel das Recht auf Beteiligun­g. Die Schutzkonz­epte, für die sich auch die Remscheide­r starkmache­n, laufen in den Institutio­nen natürlich weiter. Aber Kinder momentan einzubezie­hen, ist wegen der Pandemie schwierig. Das Theaterstü­ck „Mein Körper gehört mir“an den Grundschul­en kann derzeit nicht stattfinde­n. Das hat Nachwirkun­gen, denke ich.

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FOTO: ANDREA HOMFELD Petra Wolf (l.) und Angelika Horn von der Familienbe­ratungsste­lle des Kinderschu­tzbundes.

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