Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Die Grünen legen vor

Annalena Baerbock zieht in den Kampf um das Kanzleramt – als zweite weibliche Kandidatin überhaupt. Die Union hingegen tut sich schwer mit der Entscheidu­ng zwischen Armin Laschet und Markus Söder.

- VON KIRSTEN BIALDIGA, JAN DREBES UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Während die Grünen ihre Kanzlerkan­didatenfra­ge entschiede­n haben, hielt der Kampf in der Union immer noch an. Eine CDU-Vorstandss­itzung sollte am Montagaben­d eine Entscheidu­ng in der Frage bringen, ob der CDU-Vorsitzend­e Armin Laschet als Kanzlerkan­didat antritt oder CSU-Chef Markus Söder. In der Sitzung des Spitzengre­miums wies Laschet Forderunge­n nach einer Verschiebu­ng der Entscheidu­ng in die Bundestags­fraktion und an die Kreisvorsi­tzenden zurück. Laschet sagte laut Teilnehmer­n: „Wir sollten heute entscheide­n, wie wir es uns am Anfang vorgenomme­n haben.“

Für Laschet sprachen sich unter anderem Bundesvert­eidigungsm­inisterin Annegret Kramp-Karrenbaue­r, Schleswig-Holsteins Ministerpr­äsident Daniel Günther und CDU-Vize Thomas Strobl aus Baden-Württember­g aus. Sachsen-Anhalts Ministerpr­äsident Reiner Haseloff und Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier gaben hingegen ein Votum für Söder ab. Die digitale Sitzung, die um 18 Uhr begann, dauerte bis zum Redaktions­schluss dieser Ausgabe an. Eine endgültige Entscheidu­ng stand noch aus, allerdings sprachen sich viele Redner für Laschet als Kandidaten aus.

Söder hatte die Entscheidu­ng über die Kanzlerkan­didatur am Montag dem CDU-Bundesvors­tand überlassen. „Wenn die CDU heute Abend souverän zu einer klaren Entscheidu­ng kommt, werden wir das respektier­en“, versprach Söder nach einer Sitzung des CSU-Präsidiums in München.

Zuvor hatte die Grünen-Führung die Co-Vorsitzend­e Annalena Baerbock als Kanzlerkan­didatin ihrer Partei nominiert: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Land einen Neuanfang braucht.“Für die Bundestags­wahl am 26. September formuliert­e Baerbock einen klaren Machtanspr­uch: „Verändern statt zu verspreche­n: Jetzt ist die Zeit, in diesem Sinne eine gute Regierung anzuführen“, sagte sie. „Ich trete an für Erneuerung. Für den Status quo stehen andere.“

Baerbock ist die einzige weibliche Kandidatin und seit 1949 erst die zweite Frau nach Bundeskanz­lerin

Angela Merkel (CDU), die sich um das höchste Regierungs­amt bewirbt. Die SPD schickt Vizekanzle­r und Bundesfina­nzminister Olaf Scholz ins Rennen.

Die Grünen hatten die Klärung der Spitzenper­sonalie ihren beiden Vorsitzend­en Baerbock und Robert Habeck selbst überlassen. Nach eigenen Angaben hatten diese die Kandidaten­frage schon vor Ostern unter sich geklärt. Habeck sagte dazu: „In dieser Situation führt der gemeinsame Erfolg dazu, dass einer einen Schritt zurücktret­en muss.“Trotzdem werde er die Grünen zusammen mit Baerbock als Spitzenduo in den Wahlkampf führen. Zum Machtkampf in der Union sagte Baerbock, sie finde es besorgnise­rregend, dass Regierungs­parteien so ins Schwanken kämen. Sie wünsche „Herrn Laschet und Herrn Söder, dass sie da zu einer gemeinsame­n Entscheidu­ng kommen“. Bundeskanz­lerin Merkel beglückwün­schte Baerbock zu ihrer Kandidatur.

CDU-Chef Laschet warnte vor einem schmutzige­n Wahlkampf: „Wir wissen aus den USA, was es bedeutet, polarisier­te Wahlkämpfe zu führen.“Das solle man sich in Deutschlan­d ersparen.

In Nordrhein-Westfalen lobte der SPD-Landesvors­itzende Thomas Kutschaty die geräuschlo­se Kandidaten­kür der Grünen: „Die Grünen steigen nun mit Annalena Baerbock in den Wahlkampf ein. Ihre kurze Präsentati­on war erstaunlic­h geräuschlo­s und damit im Vergleich zum wochenlang­en Gockelkamp­f bei CDU und CSU weitaus besser für unsere politische Kultur“, sagte Kutschaty. Mit Baerbock sei es möglich, einen anständige­n und vernünftig­en Wettbewerb zu führen. NRW-Gleichstel­lungsminis­terin Ina Scharrenba­ch (CDU) hingegen sagte: „Wen die aufstellen, stellen die auf.“Das Wahlprogra­mm der Grünen entspreche nicht ihrem Verständni­s einer freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng.

In der Union hatten sich am Montag erneut Befürworte­r Laschets und Söders aus unterschie­dlichen Lagern der Union zu Wort gemeldet: Bayerns Finanzmini­ster Albert Füracker appelliert­e an die CDU, den Kanzlerkan­didaten mit den größten Erfolgsaus­sichten bei der Bundestags­wahl zu nominieren. Kritik am Verfahren wies er zurück: „Wir haben die Woche nicht dazu genutzt, CDU-Mitglieder oder den Parteivors­itzenden zu diskrediti­eren“, sagte Füracker. Es habe keine verletzend­en oder ehrabschne­idenden Vorwürfe seitens des CSU gegeben.

Der CDU-Haushälter Eckhardt Rehberg rief hingegen Söder zum sofortigen Rückzug auf: „Die CDU Deutschlan­ds hat einen klaren Anspruch auf die Kanzlerkan­didatur.“

„Es gibt bei dieser Entscheidu­ng keine Verlierer“

Claudia Roth Ex-Parteichef­in

Schweigen ist eine Kunst. Sie kann Kandidaten machen, in diesem Fall eine Kandidatin, die nach dem höchsten Regierungs­amt in Deutschlan­d greift. Jetzt weiß auch die Republik, was Annalena Baerbock und Robert Habeck schon seit Wochen wissen. Bereits „vor Ostern“haben die beiden Grünen-Vorsitzend­en laut Baerbock entschiede­n, wer von den beiden den Sturm aufs Kanzleramt anführen soll. Eigentlich wollten sie in diesem Frühjahr ihre Einigung haben, „wenn die Bäume wieder Grün sind“. Doch zumindest in diesem Punkt waren Baerbock und Habeck der Vegetation und ihrer Zeit voraus.

Seit Baerbock und Habeck an jenem 27. Januar 2018 beim Parteitag in Hannover in der Nachfolge von Cem Özdemir und Simone Peter zu den neuen Bundesvors­itzenden von Bündnis 90/Die Grünen gewählt wurden, arbeiten sie auf diesen einen Termin hin. Auf den Wahltag im Bund am 26. September dieses Jahres und das Ziel, das Bundeskanz­leramt zu erobern. Sinnigerwe­ise lautete das Motto dieses ersten Wahlpartei­tages der neuen Vorsitzend­en Baerbock und Habeck: „… und das ist erst der Anfang!“Ein Parteitags­slogan als Wegweiser.

Seither sind beide unermüdlic­h im Land unterwegs, haben sich bekannt gemacht und mit einiger Ausdauer auch den Osten bereist. Wer in der ersten Reihe der Berufspoli­tik nach Höherem strebt, lernt schnell: Man muss Kilometer machen, in diesem Fall am besten emissionsa­rm, aber nicht geräuschfr­ei, denn die grüne Botschaft soll gehört werden. Habeck sagte damals noch: „Annalena, vielleicht habe ich ja das Glück und darf der Mann an Deiner Seite sein.“Politisch gesehen. Beide sind verheirate­t. Habeck hat vier erwachsene Söhne, Baerbock zwei Töchter im Grundschul­alter.

Die beiden neuen Vorsitzend­en haben ihre Partei in Landtagswa­hlen zu teilweise bemerkensw­erten Ergebnisse­n unter anderem im einstigen CSU-Stammland

Bayern geführt, wo die einstigen Ökopaxe 2018 trotz Bienenfreu­nd Söder früher beinahe unmögliche 17,5 Prozent holten. In Hessen verteidigt­en die Grünen ihre Beteiligun­g an der CDU-geführten

Landesregi­erung. In Baden-Württember­g siegte Winfried Kretschman­n zuletzt furios. Nun soll daraus noch mehr werden. Baerbock und Habeck greifen nach der Macht im Bund – gemeinsam als Spitzen-Duo in diesem Wahlkampf, aber mit Baerbock eben ganz vorne als Kanzlerkan­didatin. Ex-Parteichef­in Claudia Roth freut sich auch über die Art der Entscheidu­ng. Eben keine Klüngelei in Hinterzimm­ern. Die jetzige Entscheidu­ng stehe „am Ende eines langen Prozesses, bei dem die Vorsitzend­en über Jahre Vertrauen gebildet, die Partei integriert und mitgenomme­n haben“, sagte Roth unserer Redaktion. Vor allem: „Es gibt bei dieser Entscheidu­ng keine Verlierer.“

Mit Renate Künast freut sich noch eine Ex-Parteichef­in nach eigener Erfahrung mit grünen Grabenkämp­fen über die Entscheidu­ng „und eine neue Art politische­r Führung“. Künast vergisst den Mann an der Grünen-Spitze nicht: „Und ganz herzlichen Dank an Robert.“Jetzt muss noch ein Wahlpartei­tag Mitte Juni grünes Licht geben.

Baerbock und Habeck sprachen am Montag in Berlin von einem Prozess, in dem sich beide auch miteinande­r seit mehr als drei Jahren befänden. Von vielen „vertrauten und vertraulic­hen Gesprächen“über die Frage aller Fragen: Wer von beiden erster Kanzlerkan­didat beziehungs­weise erste Kanzlerkan­didatin in 41 Jahren Parteigesc­hichte werden soll? Als sich die Grünen im Januar 1980 in Karlsruhe gegründet haben, war Baerbock, heute 40 Jahre, noch nicht einmal geboren. Und Habeck, heute 51 Jahre alt, steckte noch in Kinderschu­hen. Aber nun wollen beide mit ihrem Führungsst­il, der explizit auf „Kooperatio­n“angelegt sei, auch im Bund zeigen, dass Veränderun­g im ganzen Land mit einer anderen politische­n Kultur möglich sei. „Und so beginnt heute ein neues Kapitel für unsere Partei, und wenn wir es gut machen auch für unser Land“, sagt Baerbock. Miteinande­r wolle man arbeiten und nicht gegeneinan­der, betont sie. Man könnte dies an diesem Tag durchaus als Anspielung auf den Umgang in den Unionspart­eien verstehen.

Habeck hat zu diesem Zeitpunkt die Bühne der Präsentati­on schon geräumt. Sie gehört jetzt Baerbock, der Kandidatin: „Wir haben es uns beide zugetraut.“Der Erfolg habe auch „paradoxe Seiten“, hatte der frühere Landesumwe­ltminister in Schleswig-Holstein zur gemeinsame­n Entscheidu­ng noch gesagt. „Am Ende kann es nur einer machen.“Die Völkerrech­tlerin ist jetzt erklärte Nummer eins, was sie nach dem Frauenstat­ut der Partei schon vorher war. Wo es keine Doppelbese­tzung geben kann wie im Kanzleramt, haben bei den Grünen Frauen formal den ersten Zugriff. Baerbock wittert ihre Chance: „Ich bin überzeugt: Dieses Jahr ist alles drin. Und dafür geben wir unser Bestes.“Habeck werde, wenn der grüne Traum in Erfüllung gehe, eine „zentrale Rolle in einer nächsten Bundesregi­erung spielen“. Kein Vertun: „Wir möchten am liebsten diese Bundesregi­erung anführen.“

Daheim in Potsdam übrigens sei auch alles besprochen, vornehmlic­h mit ihrem Mann Daniel Holefleisc­h, aber eben auch mit den gemeinsame­n Töchtern. Denn als Kanzlerkan­didatin wird die Zeit für Familie zum äußerst knappen Gut. Doch Baerbock verspricht auch hier ihr Bestes: „Ich werde weiterhin Mutter bleiben. Und meine Kinder wissen wo mein Zuhause und mein Herz ist.“

 ?? FOTOS: DPA (2), IMAGO (2) | MONTAGE: C. SCHNETTLER ??
FOTOS: DPA (2), IMAGO (2) | MONTAGE: C. SCHNETTLER
 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ??
FOTO: KAY NIETFELD/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany