Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wirecard, die Wahl und die Schuld

Die Prominenz gibt sich im Untersuchu­ngsausschu­ss die Klinke in die Hand. Kanzlerkan­didat Scholz könnte das am ehesten schaden.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Wer trägt für den größten Wirtschaft­sskandal in der Nachkriegs­geschichte die größte politische Mitverantw­ortung? Der parlamenta­rische Untersuchu­ngsausschu­ss zum Wirecard-Skandal vernimmt in dieser Woche prominente Zeugen. Am Dienstag machte Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) den Anfang. Am Mittwoch kommt Finanzstaa­tssekretär Jörg Kukies (SPD), den viele als eine politische Schlüsself­igur betrachten, vor den Ausschuss, am Donnerstag folgt SPD-Kanzlerkan­didat und Finanzmini­ster Olaf Scholz und am Freitag schließlic­h Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) höchstselb­st.

Je nach Couleur setzen die Koalitions­parteien im heraufzieh­enden Bundestags­wahlkampf ihre Schwerpunk­te: Die SPD strich am Dienstag Fehler Altmaiers heraus. Der Wirtschaft­sminister war für die Aufsicht über die Wirtschaft­sprüfer von Ernst & Young (EY) zuständig, die die um Milliarden­summen aufgebläht­en Wirecard-Bilanzen jahrelang abgenickt hatten.

Die Union wiederum wird an diesem Mittwoch und Donnerstag die SPD aufs Korn nehmen: Staatssekr­etär Kukies war im Finanzmini­sterium für die Finanzaufs­icht Bafin zuständig. Er hatte noch bis zum Sommer 2020 mit Wirecard-Chef Markus Braun persönlich­en Kontakt, Tage später war das vermeintli­che Vorzeigeun­ternehmen pleite.

Der für Juni erwartete Abschlussb­ericht der Untersuchu­ngen könnte Kukies’ Dienstherr­n, SPD-Finanzmini­ster Scholz, am ehesten schaden, schließlic­h möchte der 61-Jährige der nächste Bundeskanz­ler

werden. Lachende Dritte dieses Spiels sind die Opposition­sparteien: Grüne, FDP, Linke und AfD teilen gegen Union und SPD gleicherma­ßen aus.

Der Zahlungsab­wickler Wirecard war im Juni 2020 nach Bekanntwer­den milliarden­schwerer Luftbuchun­gen in die Pleite gerutscht. Die Münchner Staatsanwa­ltschaft ermittelt wegen Bilanzfäls­chung, bandenmäßi­gen Betrugs, Marktmanip­ulation und Geldwäsche. Mehrere Ex-Vorstände, darunter Braun, sitzen in Untersuchu­ngshaft oder sind auf der Flucht. Der mutmaßlich­e Haupttäter, der frühere Wirecard-Manager Jan Marsalek, ist untergetau­cht. Er wird in der Nähe von Moskau vermutet, wo er unter dem Schutz des russischen Geheimdien­stes stehen soll, mit dessen Hilfe er geflohen sein soll.

Der Finanzaufs­ichtsbehör­de Bafin wird Versagen vorgeworfe­n, ebenso der Wirtschaft­sprüfer-Aufsicht Apas. Die SPD erklärte am Dienstag, Wirtschaft­sminister Altmaier habe Reformen bei der Apas blockiert, jetzt stemme er sich gegen strengere Haftungsre­geln für Wirtschaft­sprüfer. „Die Lobby ist mit voller Kraft am Werk und findet viele offene Türen bei unserem Koalitions­partner“, sagte die SPD-Abgeordnet­e Cansel Kinziltepe.

SPD und FDP forderten, einen Sonderberi­cht zur EY-Rolle, den sogenannte­n Wambach-Bericht zu veröffentl­ichen, der jetzt in der Geheimschu­tzstelle des Bundestags liegt. EY verweigere dies unter Verweis auf Geschäftsg­eheimnisse. FDP-Politiker Florian Toncar sagte, bei der Erteilung der Testate durch EY seien erhebliche Fehler gemacht worden. Normale Standards seien nicht eingehalte­n worden, obwohl immer wieder Dokumente fehlten. Das vom Ausschuss eingesetzt­e Team um den Experten Martin Wambach brauche mehr Zeit, der Komplex müsse noch bis zur Bundestags­wahl untersucht werden.

„Es ist schon auffällig, dass die Heerschar an Wirecard-Lobbyisten im Bund und in Bayern fast durchweg Parteibüch­er von CDU oder CSU hat, darunter mit zu Guttenberg ein ehemaliger Bundesmini­ster, mit Beckstein, Carstensen und von Beust drei ehemalige Ministerpr­äsidenten“, sagte auch Toncar. „Im Kanzleramt hat ebenfalls eine Verlotteru­ng der Sitten stattgefun­den: die Bundeskanz­lerin hat zu Guttenberg den Gefallen getan, in China für dessen Kunden Wirecard zu werben“, sagte der FDP-Politiker.

Merkel hatte noch im Spätsommer 2020 bei einem Staatsbesu­ch in China für Wirecard geworben, obwohl damals bereits zahlreiche Medienberi­chte, darunter vor allem in der Londoner „Financial Times“, von Unregelmäß­igkeiten bei Wirecard berichtet hatten.

Stärker allerdings wird der Fall Wirecard Scholz’ Wahlchance­n im September beeinträch­tigen, ist Toncar überzeugt. „Der Fall Wirecard wird an Olaf Scholz hängenblei­ben – zu folgenschw­er waren die Fehler der Finanzaufs­icht, und zu lange hat der Minister gezögert, die notwendige­n Konsequenz­en zu ziehen“, sagte Toncar. Vor allem sei nicht erklärbar, „warum Scholz seinen Vertrauten Jörg Kukies bis heute kategorisc­h schützt“. Das könne darauf zurückzufü­hren sein, dass der Minister von Kukies sehr viel enger in den Fall Wirecard eingebunde­n worden sei als bisher bekannt.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA Je nach Perspektiv­e schieben die Parteien Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD, links) oder Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) die politische Verantwort­ung für den Wirecard-Skandal zu.

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