Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Erzählwanderung voller Kreativität
Weil Corona kein normales Erzählfestival zuließ, hat sich die Akademie Remscheid für diese Ausgabe etwas Besonderes einfallen lassen.
Vermutlich wird sich in einigen Jahren das Sprichwort „Corona macht erfinderisch“etabliert haben. Denn es ist schon erstaunlich, wie viel Kreativität sich in so unterschiedlichen Bereichen wegen der Einschränkungen und der Hygienemaßnahmen entwickeln konnte. Jüngstes Beispiel hierfür ist das Internationale Erzählfestival der Akademie Remscheid, das in diesem Jahr nicht wie gewohnt in Präsenz am Küppelstein beziehungsweise auf Schloss Burg stattfinden konnte, sondern in den virtuellen Raum ausweichen musste. Die beiden Fachbereichsleiter Literatur & Sprache, Julia Abel und Sascha Pranske, hatten sich neben dem Workshop-Programm, das sich an ein Fachpublikum richtete, auch ein öffentliches Programm einfallen lassen, das trotz der ungewohnten Umsetzung sehr kreativ umgesetzt wurde.
Um 17 Uhr fand am Mittwochnachmittag der Auftakt mit der traditionellen Erzählwanderung statt. Aber natürlich auch auf digitale Weise. Und zwar sparte man sich – was schade war, da das Wetter dazu eigentlich einlud – die Wanderung vom Küppelstein an die Wupper hinunter und wieder hoch zum Abendprogramm in Schloss Burg. Dennoch besuchten die 56 Teilnehmer gleich vier Städte – Bremen, Münster, Essen und Utrecht. Denn das waren die Heimatstädte der vier Erzählerinnen und Erzähler, Julia Klein, Marian Heuser, Rainer Mensing und Raymond den Boestert. „Mir wäre es in echt auch lieber, aber lasst uns unsere kleine Proviantpäckchen packen und losziehen“, sagte Rainer Mensing dann auch gutgelaunt.
Den Auftakt machte indes der Münsteraner Poetry Slammer Marian Heuser, der seine Geschichte „Opa und die Mini-Soldaten“lebendig und mit so unterschiedlichen Stimmungen und Stimmen präsentierte, dass man wunderbar in seine Kindheitserinnerungen rund um die ulkigen bis nachdenklichen Auseinandersetzungen im Drei-Generationen-Haushalt um Transformer- und anderes Kriegsspielzeug eintauchen konnte. Und schon da wurde den Teilnehmern, die übrigens von Bayern bis Kiel virtuell nach Remscheid gereist waren, deutlich, wie wichtig es doch für den Zuhörer war, wenn die Erzähler nicht einfach nur ablasen, sondern in der Lage waren, die Geschichte mit Leben zu erfüllen.
Besagtes Proviantpäckchen wanderte übrigens von einem zum anderen der vier Erzähler. Wobei der Inhalt sich von Mal zu Mal veränderte. So war es bei der Erzählung von Julia Klein aus Bremen ein Stück Garn, was natürlich auch zur Geschichte über Schneidern, Nähen und Kleidungsstücke passte. Dabei funktionierte sogar im virtuellen Ambiente die Kommunikation perfekt – denn Julia Klein holte sich Unterstützung aus dem Publikum. „Wenn du Stop sagst, unterbreche ich meine Geschichte und sehe mich ein wenig um. Wenn du Go sagst, fahre ich fort“, so lautete die Regieanweisung. Und das Hinund-Her klappt prima – letztlich auch nicht anders, als säße die Helferin
in einem ganz normalen Saal.
Bei Raymond den Boestert in Utrecht hatte sich das Garn in einen Laib Brot verwandelt. Der Niederländer erzählte in unmittelbarer Nähe des Utrechter Doms eine Geschichte aus der mittelalterlichen Metropole, in der es vor allem um die Schwierigkeit ging, seinen Hunger mit besagtem Laib Brot stillen zu können – geschweige denn am Leben zu bleiben, wenn man vom wütenden Vater mit einem solchen geschlagen wurde. Geschichte? Erfindung? Legende? Wahrheit? Das waren zwar Fragen, die man sich stellen konnte, aber letztlich ging es bei einer gut erzählten Geschichte darum doch gar nicht. Und so folgte man Raymond den Boestert gerne weiter, eher dieser sein Proviantpäckchen wieder zurück zu Rainer Mensing nach Essen gab.
Der setzte ein wenig auf Improvisationen, da er sich zu Beginn im Zoom-Chat nach Gelegenheiten erkundigte, bei denen man sich mit der Familie treffen konnte. Und so ging es dann um Oma Resis Geburtstag und diverse Gegenstände, die von den virtuellen Besuchern in die Kamera gehalten wurden, und als Stichwortgeber für die Fortführung der Geschichte fungierten. Eine gute Stunde dauerte diese digitale Erzählwanderung. Und machte auf eindrucksvolle Art und Weise deutlich, dass „Corona macht erfinderisch“alles andere als eine Floskel war.