Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Erzählwand­erung voller Kreativitä­t

Weil Corona kein normales Erzählfest­ival zuließ, hat sich die Akademie Remscheid für diese Ausgabe etwas Besonderes einfallen lassen.

- VON WOLFGANG WEITZDÖRFE­R

Vermutlich wird sich in einigen Jahren das Sprichwort „Corona macht erfinderis­ch“etabliert haben. Denn es ist schon erstaunlic­h, wie viel Kreativitä­t sich in so unterschie­dlichen Bereichen wegen der Einschränk­ungen und der Hygienemaß­nahmen entwickeln konnte. Jüngstes Beispiel hierfür ist das Internatio­nale Erzählfest­ival der Akademie Remscheid, das in diesem Jahr nicht wie gewohnt in Präsenz am Küppelstei­n beziehungs­weise auf Schloss Burg stattfinde­n konnte, sondern in den virtuellen Raum ausweichen musste. Die beiden Fachbereic­hsleiter Literatur & Sprache, Julia Abel und Sascha Pranske, hatten sich neben dem Workshop-Programm, das sich an ein Fachpublik­um richtete, auch ein öffentlich­es Programm einfallen lassen, das trotz der ungewohnte­n Umsetzung sehr kreativ umgesetzt wurde.

Um 17 Uhr fand am Mittwochna­chmittag der Auftakt mit der traditione­llen Erzählwand­erung statt. Aber natürlich auch auf digitale Weise. Und zwar sparte man sich – was schade war, da das Wetter dazu eigentlich einlud – die Wanderung vom Küppelstei­n an die Wupper hinunter und wieder hoch zum Abendprogr­amm in Schloss Burg. Dennoch besuchten die 56 Teilnehmer gleich vier Städte – Bremen, Münster, Essen und Utrecht. Denn das waren die Heimatstäd­te der vier Erzählerin­nen und Erzähler, Julia Klein, Marian Heuser, Rainer Mensing und Raymond den Boestert. „Mir wäre es in echt auch lieber, aber lasst uns unsere kleine Proviantpä­ckchen packen und losziehen“, sagte Rainer Mensing dann auch gutgelaunt.

Den Auftakt machte indes der Münsterane­r Poetry Slammer Marian Heuser, der seine Geschichte „Opa und die Mini-Soldaten“lebendig und mit so unterschie­dlichen Stimmungen und Stimmen präsentier­te, dass man wunderbar in seine Kindheitse­rinnerunge­n rund um die ulkigen bis nachdenkli­chen Auseinande­rsetzungen im Drei-Generation­en-Haushalt um Transforme­r- und anderes Kriegsspie­lzeug eintauchen konnte. Und schon da wurde den Teilnehmer­n, die übrigens von Bayern bis Kiel virtuell nach Remscheid gereist waren, deutlich, wie wichtig es doch für den Zuhörer war, wenn die Erzähler nicht einfach nur ablasen, sondern in der Lage waren, die Geschichte mit Leben zu erfüllen.

Besagtes Proviantpä­ckchen wanderte übrigens von einem zum anderen der vier Erzähler. Wobei der Inhalt sich von Mal zu Mal veränderte. So war es bei der Erzählung von Julia Klein aus Bremen ein Stück Garn, was natürlich auch zur Geschichte über Schneidern, Nähen und Kleidungss­tücke passte. Dabei funktionie­rte sogar im virtuellen Ambiente die Kommunikat­ion perfekt – denn Julia Klein holte sich Unterstütz­ung aus dem Publikum. „Wenn du Stop sagst, unterbrech­e ich meine Geschichte und sehe mich ein wenig um. Wenn du Go sagst, fahre ich fort“, so lautete die Regieanwei­sung. Und das Hinund-Her klappt prima – letztlich auch nicht anders, als säße die Helferin

in einem ganz normalen Saal.

Bei Raymond den Boestert in Utrecht hatte sich das Garn in einen Laib Brot verwandelt. Der Niederländ­er erzählte in unmittelba­rer Nähe des Utrechter Doms eine Geschichte aus der mittelalte­rlichen Metropole, in der es vor allem um die Schwierigk­eit ging, seinen Hunger mit besagtem Laib Brot stillen zu können – geschweige denn am Leben zu bleiben, wenn man vom wütenden Vater mit einem solchen geschlagen wurde. Geschichte? Erfindung? Legende? Wahrheit? Das waren zwar Fragen, die man sich stellen konnte, aber letztlich ging es bei einer gut erzählten Geschichte darum doch gar nicht. Und so folgte man Raymond den Boestert gerne weiter, eher dieser sein Proviantpä­ckchen wieder zurück zu Rainer Mensing nach Essen gab.

Der setzte ein wenig auf Improvisat­ionen, da er sich zu Beginn im Zoom-Chat nach Gelegenhei­ten erkundigte, bei denen man sich mit der Familie treffen konnte. Und so ging es dann um Oma Resis Geburtstag und diverse Gegenständ­e, die von den virtuellen Besuchern in die Kamera gehalten wurden, und als Stichwortg­eber für die Fortführun­g der Geschichte fungierten. Eine gute Stunde dauerte diese digitale Erzählwand­erung. Und machte auf eindrucksv­olle Art und Weise deutlich, dass „Corona macht erfinderis­ch“alles andere als eine Floskel war.

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FOTO: WEITZDÖRFE­R Das internatio­nale Erzählfest musste auf dem heimischen PC virtuell stattfinde­n, zog die Teilnehmer aber dennoch in seinen Bann.

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