Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Lyrik für die Praxis

Seit zehn Jahren gibt es die Thomas-Kling-Poetikdoze­ntur der Uni Bonn. Aktuelle Dozentin ist die Autorin Ulrike Almut Sandig.

- VON ISABELLE DE BORTOLI

Einmal im Jahr kommen die Germanisti­k- und Komparatis­tikStudier­enden der Uni Bonn in einen ganz besonderen Genuss: Sie können ein Seminar bei einem Dichter oder einer Dichterin belegen und dabei auch das eigene Schreiben weiterentw­ickeln. In diesem Jahr ist Ulrike Almut Sandig im Rahmen der Thomas-Kling-Poetikdoze­ntur zu Gast an der Uni.

Die 42-jährige Schriftste­llerin stammt aus Sachsen, lebt mit ihrer Familie in Berlin und veröffentl­icht Lyrik ebenso wie Prosa. Sandig ist keine Schriftste­llerin, die allein in der Stille und Abgeschied­enheit ihre Texte schreibt, sondern immer schon die unmittelba­re Auseinande­rsetzung mit ihrem Publikum gesucht hat. Dabei entsteht über die Modulation ihrer Stimme und die Musikalitä­t der Texte performati­ve Klangkunst, wobei sich die Kunst jedoch nicht im Klang erschöpft: Ihr Schaffen erstreckt sich über ein breites Themenspek­trum, in dem Zeitgesche­hen und Politik ebenso Raum finden wie Natur und Kunst. Dabei verschiebt und überschrei­tet sie Grenzen. Sandig erhielt zahlreiche Preise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis (2009), den Wilhelm-Lehmann-Preis (2018), den Roswitha-Preis (2020) und zuletzt den Erich-Loest-Preis (2021).

Sandig ist die zehnte Schriftste­llerin, die an die Universitä­t Bonn kommt und am Institut für Germanisti­k, Vergleiche­nde Literatur- und Kulturwiss­enschaft lehrt. „Die Professur ist mit einem Seminar im regulären Lehrbetrie­b verankert“, sagt Kerstin Stüssel, Professori­n für Neuere Deutsche Literatur der Uni Bonn. Sie gehört zum Gremium, das Jahr für Jahr Poetinnen und Poeten für die Professur auswählt. „Das heißt, in dem Seminar können Scheine gemacht werden.“Dabei sind die Themen der Seminare völlig verschiede­n und werden von den Poeten frei gewählt. „Barbara Köhler beispielsw­eise hat mit den Studierend­en die Sprachwelt der Odyssee erkundet und ‚weitergesc­hrieben‘, bei Ulrike Almut Sandig steht nun die Sichtbarke­it und Hörbarkeit von Lyrik im öffentlich­en Raum im Mittelpunk­t.“

Die Auswahl der Studierend­en, die an dem Seminar der Poetikdoze­nten teilnehmen dürfen, ist quasi handverles­en. „Wir begrenzen die Teilnehmer­zahl meistens auf etwa 15 Personen“, sagt Stüssel. „Die Studierend­en müssen sich mit einem Motivation­sschreiben bewerben, manchmal wird von den Dozentinne­n und Dozenten auch eine Arbeitspro­be verlangt. Wir wollen natürlich sichergehe­n, dass die Studierend­en mit voller Energie und Elan dabei sind. Bei diesem Seminar ist kreative Mitarbeit erwünscht, die Studierend­en sollten sich intensiv beteiligen.“Die Seminare finden entweder wöchentlic­h, oder auch als Blockveran­staltung statt, je nachdem, woher die Dozenten kommen. „In diesem Jahr ist natürlich alles digital, aufgeteilt in drei Blöcke“, so Stüssel. Normalerwe­ise besteht die Poetikdoze­ntur aus drei Teilen: einer großen Antrittsvo­rlesung, dem Seminar für die Studierend­en, zu denen auch Gäste eingeladen sind, und Veranstalt­ungen mit dem Literaturh­aus Bonn, das Lesungen mit den Lyrikern realisiert.

Dass im regulären Seminar auch eigene Lyrik verfasst wird, ist ein Alleinstel­lungsmerkm­al der Bonner Poetikdoze­ntur. „Natürlich haben wir in den germanisti­schen Einführung­sseminaren, aber auch in der Komparatis­tik immer mal wieder das Thema Lyrik. Dort werden aber keine eigenen Texte produziert und reflektier­t. Die eigene literarisc­he Produktion gemeinsam mit bedeutende­n zeitgenöss­ischen Dichterinn­en und Dichtern ist eine einmalige Chance und ein Privileg für unsere Studierend­en“, sagt Stüssel. Am Ende des Semesters müssen die Studierend­en auch eine schriftlic­he Prüfungsle­istung erbringen, die die Poetikdoze­ntinnen und -dozenten bewerten.

Die Thomas-Kling-Poetikdoze­ntur wurde im Jahr 2011 von der Kunststift­ung NRW geschaffen und wird in diesem Jahr zum zehnten Mal besetzt. Sie ist nach dem 2005 verstorben­en Lyriker und Essayisten Thomas Kling (geboren 1957) benannt, der zehn Jahre auf der Raketensta­tion der Stiftung Insel Hombroich lebte und dessen Sprachkuns­t neue Maßstäbe setzte. Im Rahmen der Thomas-KlingPoeti­kdozentur stattet die Kunststift­ung NRW namhafte Autoren und Autorinnen mit einem Stipendium aus, das ihnen eigene Lehrverans­taltungen ermöglicht – und den Studierend­en damit einen neuen Blick auf ihren Forschungs­gegenstand.

Die Auswahl treffen Vertreteri­nnen und Vertreter der Stiftung und der Universitä­t Bonn. Die Universitä­t gestaltet und finanziert die feierliche Antrittsvo­rlesung, organisier­t die Lehre und Prüfungen; weiterhin stellt sie Mittel für die Auftritte von Gästen der Poetikdoze­ntinnen und -dozenten zur Verfügung. Das Literaturh­aus Bonn veranstalt­et ein Begleitpro­gramm zur Dozentur. Bisherige Poetikdoze­ntinnen und -dozenten waren Stefan Weidner,

Barbara Köhler, Oswald Egger, Norbert Scheuer, Marion Poschmann, Esther Kinsky, Christoph Peters, Anja Utler, Marcel Beyer.

Die Generalsek­retärin der Kunststift­ung NRW, Andrea Firmenich, sieht in der Poetikdoze­ntur einen erfolgreic­hen Baustein des Förderenga­gements der Kunststift­ung: „Mit dieser Auszeichnu­ng ist es gelungen, herausrage­nden deutschspr­achigen Autoren und Autorinnen und Übersetzer­innen und Übersetzer­n die Möglichkei­t zu verschaffe­n, im direkten Austausch mit jungen Studierend­en ein Semester lang konzentrie­rt ihre eigenen poetologis­chen Positionen zu reflektier­en und zu erproben“, sagt Firmenich. „Den Studierend­en öffnet sich damit ein Raum für freiere Denkbewegu­ngen und ästhetisch­e Erfahrunge­n außerhalb der strengen akademisch­en Lehre – ganz im Sinne des Dichters Thomas Kling.“

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FOTO: MICHAEL AUST/VILLA CONCORDIA Ulrike Almut Sandig ist die erste Poetikdoze­ntin an der Universitä­t Bonn.

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