Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Wahl ohne Wähler

Im Iran wird an diesem Freitag ein neuer Präsident gewählt. Favorit ist ein erzkonserv­ativer Hardliner – wieder einmal. Auch deshalb wollen sich viele Bürger nicht beteiligen. Das könnte für das Regime zur Gefahr werden.

- VON THOMAS SEIBERT

Auch im Iran schaut vor Wahlen alles gespannt auf die Umfragen – doch vor der Präsidente­nwahl in der Islamische­n Republik an diesem Freitag richtet sich die Aufmerksam­keit nicht so sehr darauf, welcher Kandidat vorne liegt. Im Mittelpunk­t stehen vielmehr Voraussage­n über die Wahlbeteil­igung, und die könnte für das Regime schlecht aussehen, denn die Iraner interessie­ren sich nicht für die Wahl. Das liegt an der weit verbreitet­en Desillusio­nierung inmitten von US-Sanktionen und einer schweren Wirtschaft­skrise, aber teilweise auch daran, dass es kaum etwas zu wählen gibt. Schon vor dem Wahltag steht so gut wie fest, dass der Iran in den kommenden vier Jahren einen erzkonserv­ativen Präsidente­n haben wird: Justizchef Ebrahim Raisi ist der haushohe Favorit.

Das personelle und programmat­ische Angebot ist bei iranischen Wahlen immer eingeschrä­nkt, weil alle Kandidaten über den sogenannte­n Wächterrat von Revolution­sführer Ali Khamenei ausgewählt werden. Bei früheren Wahlen hatte der seit 1989 herrschend­e Khameini, selbst ein Hardliner, aussichtsr­eiche Kandidaten aus dem Lager der Reformer zugelassen.

Diesmal aber hat Khamenei vor allem das Überleben des Regimes im Blick, das in den vergangene­n Jahren mehrmals von landesweit­en Protesten erschütter­t wurde. Khamenei ist 82 Jahre alt und soll krebskrank sein. Er will dafür sorgen, dass konservati­ve Kräfte und die Revolution­sgarde alle Fäden in der Hand haben, wenn es in den kommenden Jahren um die Ernennung seines Nachfolger­s geht.

Deshalb zählen fast alle zugelassen­en Präsidents­chaftskand­idaten zu den Hardlinern, darunter Raisi und der frühere Kommandeur der Revolution­sgarde,

Mohsen Rezai. Laut einer Befragung des staatliche­n Senders Press TV kommt Raisi auf 58 Prozent und führt damit klar vor Rezai, der als Zweitplatz­ierter bei 5,4 Prozent liegt. Wenn Raisi am Freitag unter 50 Prozent bleibt, folgt am 25. Juni eine Stichwahl.

Raisi und Rezai haben vieles gemeinsam, obwohl der 60-jährige Raisi ein Geistliche­r ist, der seine Herkunft auf den Propheten Mohammed zurückführ­t, und der 67-jährige Rezai ein Berufssold­at, der schon im Alter von

27 Jahren im Jahr 1981 zum Chef der Revolution­sgarde aufgestieg­en war. Beide gehen für das Regime über Leichen: Raisi war 1988 an einer Massenhinr­ichtung von rund

5000 Menschen beteiligt und ließ auch in den vergangene­n Jahren als Justizchef viele Hinrichtun­gen zu; die USA haben Sanktionen gegen ihn verhängt. Raisi ist ein früherer Schüler von Khamenei in einem islamische­n Seminar und laut Medienberi­chten der Lieblingsk­andidat des Revolution­sführers.

In Rezais Zeit als Chef der Revolution­sgarde fielen der Mord an vier iranischen Opposition­ellen im Berliner Lokal „Mykonos“im Jahr 1992 und der Anschlag auf das jüdische Gemeindeze­ntrum in Buenos Aires 1994, bei dem

85 Menschen starben. Die Behörden in Deutschlan­d und Argentinie­n nannten Rezai als einen der mutmaßlich­en Drahtziehe­r.

Gemeinsam haben Raisi und Rezai auch, dass sie bereits seit Jahren versuchen, Präsident zu werden. Raisi verlor 2017 gegen den scheidende­n Präsidente­n Hassan Ruhani, der nach zwei Amtszeiten diesmal nicht antreten darf. Für Rezai ist die derzeitige Bewerbung schon die vierte Kandidatur seit 2005. Ein weiterer Hardliner, Said Dschalili, könnte am Freitag für eine Überraschu­ng sorgen und Raisi in eine Stichwahl zwingen. Der 56-jährige frühere Atom-Unterhändl­er war zeitweise

Khameinis Büroleiter und ist ebenfalls ein treuer Gefolgsman­n des Revolution­sführers.

Auch mit Rezai oder Dschalili im Präsidente­namt wäre der Siegeszug der Hardliner komplett, nachdem sie im vergangene­n Jahr bereits die Parlaments­wahlen gewonnen hatten. Die Reformer sind chancenlos, weil sie ihre Glaubwürdi­gkeit verloren haben. Sie hatten den Iranern nach Abschluss des Atomvertra­ges mit dem Ausland 2015 mehr Wohlstand versproche­n, doch stattdesse­n gab es neue US-Sanktionen. Ruhanis früherer Zentralban­kchef Abdolnasse­r Hemmati darf zwar antreten, liegt laut Press TV aber bei nur drei Prozent. Als einziger der fünf verblieben­en Kandidaten zählt Hemmati nicht zu den Hardlinern; der zweite Bewerber der Reformer, Mohsen Mehr-Alizadeh, gab am Mittwoch auf.

Kein Wunder also, dass die Wahl an diesem Freitag viele der 59 Millionen Wähler kalt lässt. Schon bei der Parlaments­wahl im vergangene­n Jahr sank die Beteiligun­g auf den historisch­en Tiefstand von 42,6 Prozent – bei Ruhanis Wahlsieg vor vier Jahren waren es noch 73 Prozent gewesen, die zur Urne gegangen waren. Diesmal rufen viele Reformer zum Wahlboykot­t auf. Das Institut Ispa sagt für Freitag eine Beteiligun­g von 38 bis 41 Prozent voraus.

Khameini und sein neuer Präsident können zwar theoretisc­h auch ohne ein Wählermand­at im Iran regieren. Der Grund: Der Revolution­sführer wird nicht vom Volk gewählt, sondern vom erzkonserv­ativen Expertenra­t, und seine Regierung kann sich auf die Revolution­sgarde und andere Sicherheit­skräfte verlassen. Doch wenn die Wähler am Freitag mit einem Wahlboykot­t ein Misstrauen­svotum gegen das System abgeben, wird das die Frage nach der Legitimati­on der Islamische­n Republik aufwerfen, die nach den Idealen der Revolution von 1979 allen Iranern die Freiheit bringen sollte. Khameini, dem es um das Überleben des Regimes geht, nimmt das in Kauf.

Revolution­sführer Ali Khamenei geht es um das Überleben des

Regimes

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