Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Kulturerbe Trinkhalle

Buden gehoren zum Ruhrgebiet wie das Steigerlie­d. Ein Besuch an einem der letzten Orte des sozialen Austausche­s fur jedermann.

- VON VIKTOR MARINOV

Als „Trinkhalle­n-Hermann“starb, erzählten sie es den Kunden erstmal nicht. Auch die Beerdigung mussten sie verheimlic­hen. „Die hätten uns sonst die Bude eingerannt“, sagt Yvonne Scholz. Es war Ende Dezember 2020, die Sieben-Tage-Inzidenz in Duisburg lag um die 200 herum, es durften nur wenige Menschen zu einer Beerdigung kommen. Auch Scholz ging nicht zum Friedhof – sie tat so, als wäre nichts gewesen. Sie machte ihre Schicht im Büdchen, quatschte mit den Kunden, hörte ihnen zu, gab Ratschläge. Nebenbei verkaufte sie Brötchen, Bier und Fruchtgumm­is. Die Trinkhalle Lange in Duisburg-Meiderich gehört wie alle Buden im Ruhrgebiet seit vergangene­r Woche offiziell zum Kulturerbe des Landes NRW.

„Bei uns kauft jeder ein“, sagt Scholz, „Professore­n, Doktoren, aber auch der kleinste Mann.“Als ein Kunde sein Feierabend­bier holt, ermahnt sie ihm, seinem Hund genug Wasser zum Trinken zu bringen. „Bei der Hitze braucht er das“. Die Trinkhalle sei eben eine kleine Beratungss­telle. Ein Mann im Handwerker-Outfit kauft eine Packung Zigaretten, ein Fahrradfah­rer mit neongelber Weste und Helm holt sein Paket ab. Scholz sagt, sie kenne die Leute hier besser als in ihrer eigenen Nachbarsch­aft.

„Trinkhalle­n stellen Orte der Integratio­n und des Austausche­s dar“, hieß es vom NRW-Kulturmini­sterium bei der Aufnahme der Büdchen ins immateriel­le Kulturerbe des Landes. Am vergangene­n Mittwoch gab es im Düsseldorf­er Landtag eine Auszeichnu­ng, auch das Steigerlie­d wurde dabei geehrt.

Dass die Trinkhalle einen Platz auf dieser Liste bekommt, hat die Bochumerin Marie Enders angestoßen. Für ihre Masterarbe­it hat die damalige Architektu­rstudentin

2020 ein Buch über die Trinkhalle­nkultur geschriebe­n. „Darum sind wir vor der gemischten Tüte alle gleich“, heißt das erste Kapitel. Enders nennt die Bude „eine soziale Haltestell­e im Revier.“Sie gewann für ihre Arbeit einen Preis vom Bund Deutscher Architekte­n, auch das NRW-Kulturmini­sterium war überzeugt.

Yvonne Scholz hat von der Ehrung im Landtag nichts mitbekomme­n. Als man ihr das erzählt, sagt sie, sie finde das toll. Überrascht wirkt sie nicht. Die 64-Jährige arbeitet seit

20 Jahren bei der Trinkhalle Lange. Immer noch kommt sie manchmal eine gute halbe Stunde früher zur Arbeit, weil es ihr so viel Spaß macht. Sie braucht keine offizielle Bestätigun­g, um zu wissen, dass die Bude ein besonderer Ort ist.

Es kommen zwei Mädchen vorbei, nicht älter als zehn, barfuß, ihre Flip-Flops halten sie in den Händen. In geschäftsm­äßigen Ton sagt eine von ihnen die Bestellung auf: „Drei Magnum-Mandel, ein Kratzeis und so viel Wassereis wie es geht für zehn Euro.“Das Kratzeis kostet 60 Cent, das Wassereis 15. Man bekommt in der Trinkhalle Lange auch Brötchen, Wasser, es gibt sogar noch Fruchtgumm­is für zwei Cent das Stück. Einen Kaffee gibt es für 90 Cent. Ganz schön günstig, oder? „Finde ich nicht“, sagt Scholz. Es sei eher ein angemessen­er Preis.

Doch die Büdchen sterben aus, schon seit Jahrzehnte­n. 2000 Kioske hätten von 2008 bis 2018 in Deutschlan­d geschlosse­n, heißt es vom Handelsver­band Deutschlan­d (HDE). 2018 zählte der Verband nur noch 23.500 Büdchen deutschlan­dweit. Wie viele es in NRW aktuell sind, kann der HDE nicht sagen. Wer durch Duisburg spaziert, sieht einige, die anscheinen­d schon seit Monaten nicht mehr geöffnet wurden. Ein Mann, der das Treppenhau­s gegenüber einer Trinkhalle putzt, schaut sehnsüchti­g auf die Bude.

„Die war schon bestimmt seit einem halben Jahr nicht mehr auf“, sagt er. Früher habe er dort jeden Morgen einen Kaffee geholt.

Marie Enders hat ihre Arbeit über die Büdchen geschriebe­n, um sie vor dieser Entwicklun­g zu retten. Mit der Aufnahme in die Liste des immateriel­len Kulturerbe­s geht für das Land auch die Verpflicht­ung einher, dieses Erbe zu erhalten und zu pflegen. Solche Bestrebung­en gab es auch schon vorher, etwa beim Tag der Trinkhalle­n. 2016 fand er zum ersten Mal statt, 2018 gab es eine Wiederholu­ng. An vielen Büdchen im Ruhrgebiet gab es dann kleine Feste mit Live-Musik, Kabarett oder Poetry-Slam. 2020 fiel die Veranstalt­ung aber aus, auch für 2021 ist sie bereits abgesagt. Enders schreibt mittlerwei­le eine Doktorarbe­it zum Thema.

Bei der Trinkhalle Lange machen sie sich erstmal keine Sorgen ums Überleben. Die Corona-Zeit war schwer, aber die Kunden blieben ihrer Bude treu. An der Fenstersch­eibe des Kiosks steht noch ein Foto von „Trinkhalle­n-Hermann“und seiner Frau Lange. Er, grauer Schnauzer, breites Lächeln, umarmt mit der linken Hand seine Frau, zwischen seinen Fingern noch eine halb angeraucht­e Zigarette. Für die älteren Kunden schleppte er Mineralwas­ser bis an die Tür, auch wenn er selbst nicht mehr der Jüngste war. Seine Ehefrau Ingrid kümmert sich mit 78 noch um den Kiosk, ihr Sohn führt das Geschäft. „Die Trinkhalle­n gehören einfach zum Ruhrgebiet“, sagt Yvonne Scholz. Und die Trinkhalle Lange gehört einfach zu Duisburg-Meiderich.

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FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN Yvonne Scholz bei der Arbeit in der Trinkhalle Lange in Duisburg. „Wir sind eine kleine Beratungss­telle“, sagt sie.

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