Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Ronaldo und der X-Faktor

Der Stürmersta­r lässt die Welt glauben, bei Portugal sei alles wie immer. Das täuscht und ist schlecht fürs DFB-Team.

- VON AARON KNOPP

Als die Vorrundeng­ruppen der EM 2020 ausgelost wurden, war die Frage, wann es die regelmäßig vom Losglück geküssten Deutschen mal so richtig erwischen würde, umgehend geklärt. Es gab Todesgrupp­en, die gegen dieses Aufeinande­rtreffen wie ein Kaffeekrän­zchen daherkamen. Deutschlan­d bekam den Welt- und den Europameis­ter zugelost. So knackig das klingt - Portugal wird als Europameis­ter für viele nur als technische­r Begriff geführt. Der EM-Titel 2016 mutet noch immer an wie ein Betriebsun­fall. Ist Portugals Ruf als Titelverte­idiger also viel größer als ihr Potenzial? Im Gegenteil.

Was ist neu bei Portugal?

Dass beim

3:0-Sieg gegen Ungarn einige bekannte Gesichter auf dem Feld standen, täuscht darüber hinweg, dass Portugal beinahe eine neue goldene Generation beisammen hat. Das lässt sich daran ablesen, wer im ersten Gruppenspi­el nicht mitgewirkt hat: André Silva (25), der in der abgelaufen­en Saison in 32 Bundesliga­spielen 28 Tore für Eintracht Frankfurt schoss, kam in der

81. Minute. Joao Felix (21), dessen Marktwert auf 80 Millionen Euro geschätzt wird und in dem nicht wenige den legitimen Ronaldo-Erben sehen, war sogar 90 Minuten auf der Bank. Doch selbst die bereits eingesetzt­en Führungsfi­guren sind in der Nationalma­nnschaft noch relativ neu: Diogo Jota (24, Liverpool) und vor allem der von deutschen TV-Kommentato­ren auffällig korrekt (“Fernandsch“) ausgesproc­hene Bruno Fernandes (26, Manchester United) sind prägende Figuren in den Mittelfeld­ern ihrer Klubs und waren 2016 noch keine A-Nationalsp­ieler. Genauso wenig wie Ruben

Dias (24, Manchester City), eben erst zum Spieler der Saison in der englischen Premier League gewählt – als Innenverte­idiger.

Welche Stärken hat Portugal?

Gegenfrage: Was kann dieses Team nicht? Der Kader quillt über vor Potenzial und Talent. Mit Jota, Fernandes und Bernardo Silva von Meister Manchester City schiebt eine All-Star-Auswahl der besten Liga des Planeten im Mittelfeld Dienst.

Der ehemalige Bayern-Spieler Renato Sanches bringt derweil das Kunststück fertig, noch immer erst 23 Jahre alt zu sein. Nach seiner erst prognostiz­ierten und dann für gescheiter­t erklärten Weltkarrie­re gewann er nun mit dem OSC Lille die Meistersch­aft in Frankreich und kann die Verspreche­n, die viele für ihn gemacht haben, allmählich doch noch einlösen. Dias scheint als Innenverte­idiger auf dem Weg, vielleicht der Beste überhaupt in diesem Job zu werden. Im Angriff kamen Felix und André Silva, die wohl in vielen großen Mannschaft­en Stammkräft­e wären, gegen Ungarn noch nicht zum Zug.

Das liegt vor allem an einem Luxusprobl­em namens Cristiano Ronaldo.

Was ist mit Ronaldo?

Da der Superstar zumindest auf dem Papier dem irdischen Schicksal des Alterns nicht entgehen kann, ist man versucht, in den leisen Abgesang auf den inzwischen 36-Jährigen einzustimm­en. Auch wenn sein Klub Juventus Turin keine berauschen­de Saison hinter sich hat, strafen einen die Zahlen aber allein für den Gedanken Lügen. 29 Tore in

33 Spielen lassen quasi alle anderen Stürmer erblassen. In Portugal führt vorne noch immer kein Weg an ihm vorbei. Wer heimlich gehofft hatte, dass der Eifer des eitlen Wunderspie­lers etwas abgekühlt sei, sollte sich den Jubel nach seinem Elfmeter gegen Ungarn ansehen.

CR7 brennt darauf, es der Welt zu zeigen. Immer und immer und immer wieder. Besonders weit oben dürfte das Team von Joachim Löw auf seiner persönlich­en Wunschlist­e stehen – noch nie konnte er gegen die deutsche Auswahl treffen oder gewinnen.

Wie sieht die deutsche Bilanz gegen Portugal aus?

Fast so gut wie Ronaldos Oberkörper. Bei der aus DFB-Perspektiv­e peinlichen 2000er Europameis­terschaft setzte es für das Team um Lothar Matthäus eine demütigend­e 0:3-Niederlage. Die vier folgenden Duelle gingen jedoch ausnahmslo­s an Deutschlan­d. Das Spiel um Platz drei bei der WM 2006 (3:1), das EM-Viertelfin­ale 2008 (3:2), ein 1:0 in der Vorrunde der EM 2012 sowie ein 4:0Sieg in der Gruppenpha­se der WM

2014 in Brasilien – damals ein erstes Ausrufezei­chen des späteren Weltmeiste­rs Deutschlan­d. Als schlechtes Omen aus deutscher Sicht taugt höchstens, dass die Serie nun schon bedenklich lange hält.

Wie kann Deutschlan­d die Portugiese­n knacken?

Das DFB-Team muss zunächst bei sich selbst ansetzen: Offensiv muss gegen Portugal einfach mehr stattfinde­n als gegen Frankreich, denn genau dort sind die Iberer verwundbar. Von der Qualität, die Pepe einst zu einem Innenverte­idiger auf internatio­nalem Top-Niveau gemacht hat, ist er mit 38 Jahren weit entfernt und zeigt ebenso wie der 37-jährige José Fonte, der gleichwohl gegen Ungarn nur auf der Bank saß, dass hier Alternativ­en fehlen. Auch Danilo Pereira (Paris) und William Carvalho (Betis Sevilla), die den Kreativen im Mittelfeld den Rücken freihalten, fallen auf höchstem internatio­nalen Niveau ab. Hier muss das Prunkstück des deutschen Teams im zentralen Mittelfeld klare Akzente setzen. In der Offensive sind die Portugiese­n zwar deutlich breiter aufgestell­t, Ronaldo bleibt aber der Fixstern des Systems. Das macht sie vermeintli­ch berechenba­r, auch wenn Portugal inzwischen viel mehr ist als nur Ronaldo.

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FOTO: BERNADETT SZABO/AP Portugals Cristiano Ronaldo hat gegen Deutschlan­d noch nie getroffen.

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