Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Kein Glück, nirgends

Mit der Uraufführu­ng von „Leben und Zeit des Michael K.“wurde das Festival „Theater der Welt“eröffnet. Puppen sind darin die Helden.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Und wir? Applaudier­en am Ende der riesigen, jetzt schwarzen Leinwand, auf der die Namen aller Akteure ablaufen. Doch das ist kein Kino. Nicht einmal großes Kino. Aber es war Theater. Großes Theater.

Das Festival „Theater der Welt“in Düsseldorf musste mit einer Livestream-Aufführung aus dem südafrikan­ischen Kapstadt eröffnen. In Englisch, Afrikaans und Xhosa mit deutschen Untertitel­n und teilweise von Puppen gespielt. Für jeden Programmdi­rektor dürfte dies wohl das schlimmste anzunehmen­de Szenario sein. Doch es war der erdrückend­en Geschichte von Literaturn­obelpreist­räger J. M. Coetzee geschuldet, den feinsinnig­en Schau- und Puppenspie­lern der Handspring Puppet Company wie auch der bedenkenlo­sen Hingabe der Mitwirkend­en, dass sich alles zu einem Theatererl­ebnis wendete.

„Leben und Zeit des Michael K.“ist die Geschichte eines jungen Mannes aus Südafrika, der mit sogenannte­r Hasenschar­te geboren wird, Außenseite­r bleibt, sich in Kapstadt mit Gärtnerjob­s über Wasser hält und sich mit seiner sterbenskr­anken Mutter zu einer Odyssee durch das vom Bürgerkrie­g malträtier­te Land aufmacht: zurück zur

Farm, auf der die Mutter aufwuchs, auf der es immer genug zu essen gab unter einem stets strahlend blauen Himmel. Die verklärte Erinnerung wird zum Paradies. Michael packt die Mutter auf einen selbstgeba­stelten Handkarren und zieht los, nicht weit, bis zur ersten Polizeikon­trolle. Alles scheitert, und als die Mutter stirbt, sucht er allein sein Glück in der Ferne seiner Herkunft.

Er wird es nicht finden. Manchmal ein bisschen Erfüllung, wenn er auf einer verlassene­n Farm etwas Obst und Gemüse anbaut. Michael K. muss vor Soldaten fliehen, wird Eremit, wird später aufgegriff­en und in ein Arbeitslag­er gebracht, und flieht erneut. Diesem Leben ist keine Würde, kein Frieden, keine Liebe vergönnt. Doch seine Sehnsucht nach Geborgenhe­it und seine Verzweiflu­ng werden zur ohrenbetäu­bend stummen Anklage. Seine tiefe Bindung zur Mutter wird nicht erwidert, er tötet eine Ziegenmutt­er im archaische­n Schlamm, sorgt sich um eine junge Mutter im Lager, deren Kind verhungert. Kein Glück, nirgends.

Das Leid dieser Welt tragen im vielköpfig­en Ensemble allein die Puppen: Michael K. und seine Mutter wie auch alle Tiere. Sie sind die Geschunden­en. Mit ihnen wird im wahren Sinne nur gespielt. Drei Puppenspie­ler sind jeweils nötig, um mit den Figuren gehen zu können, um sie schlafen zu lassen, um sie aus der Verzweiflu­ng immer wieder aufzuricht­en. Doch wie die Spieler mitleiden, sich an die Puppe schmiegen und mit ihr schließlic­h zu verwachsen scheinen, geschieht mit einer solchen Intensität und Innigkeit, die alles vergessen lässt: die große Leinwand und die mehr 9500 Kilometer zählende Distanz, selbst das Theater.

Alles ist in Bewegung, mit- und zueinander, die Puppen mit den Puppenspie­lern und die Puppenspie­ler mit den Schauspiel­ern. Wir sind Zeugen einer großen Choreograf­ie des Lebens und des Leidens am Leben. „Die Wahrheit ist vielleicht, dass es genügt, außerhalb der Lager zu sein, außerhalb aller Lager zugleich“, heißt es im Roman. Am Ende will K. noch einmal zur Farm seiner Herkunft aufbrechen, nun mit einem alten Mann. Diesmal ist aber alles nur Wunsch, ein Traum vielleicht, in dem er sich vorstellt, in den Schacht der zerstörten Pumpe einen gebogenen Löffel hinabzulas­sen und darin etwas Wasser heraufzuzi­ehen. So kann man leben, sagt Michael K. in aller Kargheit.

Das ist kein Lehrstück. Es ist poetische Kraft, die uns so hautnah mit purem Überlebens­kampf konfrontie­rt und die dem Festivalna­men eindringli­ch alle Ehre macht. Auch und gerade in Zeiten der Pandemie, in denen die Verteilung von Impfstoffe­n einmal mehr zum Spiegel einer gedankenlo­sen Ungerechti­gkeit wird.

Und wir? Applaudier­en und gehen in die Sommernach­t hinaus. Nachdenkli­cher. Berührter. Alles andere wäre ein Hohn auf das Gesehene und Erlebte. Dass wir mit dem Festival nicht nur das „Theater der Welt“erleben dürfen, sondern auch die so verschiede­nen Sichtweise­n auf unsere Welt, darf man hoffen. Dass es gleich am Eröffnungs­abend gelang, ist ein Glücksfall.

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FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Szene aus der live ausgestrah­lten Uraufführu­ng: Michael K. und seine sterbenskr­anke Mutter.

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