Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Frau Jacobs und ihr Einsatz gegen Gaffer
Sandra und Lina Jacobs wollen gerade ihr Frühstück bezahlen, da bricht ein 70-Jähriger vor einem Mönchengladbacher Café zusammen. Er muss reanimiert werden. Als Gaffer das fotografieren wollen, schreiten die Frauen ein.
Eine Dreiviertelstunde lang bewegt sich die Welt für Lina Jacobs nur noch in Zeitlupe. Sie hat das Gefühl, dem alten Mann nicht helfen zu können, der da an einem Montagmorgen auf dem Boden vor dem Café am Marienplatz in Mönchengladbach liegt. Sein Herz hat aufgehört zu schlagen, und die 13-Jährige weiß nicht, wie man einen Menschen wiederbelebt. Das müssen die Rettungskräfte machen. Und doch ist sie eine große Hilfe, denn sie schützt den 70-Jährigen mit einer Decke vor Blicken – und davor gefilmt zu werden.
Da ist dieser Mann im blauen Hemd, der mit seinem Handy in der Hand immer näher kommt. Und der ältere Herr, der über die Decke schauen möchte. Lina Jacobs sagt in diesen Momenten nichts. Sie schaut die Männer nur eindringlich an. „Kommt nicht näher“, soll das heißen. „Hier passiert gerade etwas Schlimmes.“Ihre Mutter Sandra (37) hält mit ihr die Decke hoch, neben ihnen stehen drei Passantinnen, die dasselbe machen. Sie alle haben Decken aus dem Café geholt, um den Gaffern keine Chance zu lassen. „Ich wollte nicht, dass der Mann oder seine Angehörigen hinterher Videos oder Fotos von dem Vorfall im Internet finden“, sagt Sandra Jacobs.
Sie und ihre Tochter Lina sind zufällig in diese Situation geraten, als sie an einem Montagmorgen gegen neun Uhr einen Kaffee und Brötchen am Marienplatz kaufen. Lina Jacobs geht es nicht gut, sie waren beim Arzt. Sandra Jacobs muss bald zur Arbeit, doch sie möchte, dass Lina vorher noch etwas isst. Als sie an der Kasse stehen, bemerkt sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Durch die Fensterscheiben des Cafés sieht sie, wie ein älterer Herr immer tiefer in seinen Stuhl rutscht. „Er war ganz bleich und hatte die Augen weit aufgerissen“, sagt Jacobs. „Ich wusste sofort, dass da etwas nicht stimmt.“Sie läuft zu ihm, sein Bekannter hat schon den Notarzt gerufen. Der Mann bewegt sich nicht mehr, die Atmung ist sehr flach. Die Rettungskräfte kommen schnell und versuchen, den 70-Jährigen wiederzubeleben. Sein Herz steht still. Erst warten Sandra und Lina Jacobs einige Meter entfernt auf dem Marienplatz, hilflos. Sie hoffen, dass der unbekannte Mann es schafft. „Es war schlimm, nichts tun zu können“, sagt Lina Jacobs. Da bemerken sie drei Passantinnen, die sich mit Decken um ihn und die Rettungskräfte herumstellen. Sie schirmen die Szene vor fremden Blicken ab. „Da habe ich nicht lange überlegt, bin mit Lina ins Café, und wir haben uns auch eine Decke geholt“, sagt Sandra Jacobs. Mutter und Tochter füllen die letzte Lücke. Jetzt ist der Mann nicht mehr zu sehen.
Sandra Jacobs
Helferin
Doch eine der fünf Heldinnen vom Marienplatz ist schwanger und muss sich zwischendurch setzen. Ihre Decke hält sie trotzdem hoch, aber nur noch auf Brusthöhe. „Ein älterer Herr hat die Chance sofort genutzt. Der kam ganz ungeniert näher und hat über die Decke gelugt“, sagt Sandra Jacobs. Der Einsatzleiter fährt ihn an: „Wenn Sie schon gucken können, können Sie auch helfen.“Der Mann verschwindet.
Der Einsatzleiter sei ein toller Mensch gewesen, sagt Sandra Jacobs. „Er hat immer wieder gefragt, ob es uns gut geht, als wir die Decken hochgehalten haben, ob uns jemand ablösen soll.“Doch alle fünf Frauen bleiben stehen, keine möchte den Gaffern ein Schlupfloch bieten. „Da kämpft ein Mensch um sein Leben und andere Menschen wollen das filmen, um es überall zu verbreiten“, sagt Sandra Jacobs. „Das ist so abstoßend.“Sie habe den Gedanken nicht ertragen können, dass der Mann im Nachhinein noch darunter leiden muss. „Die Menschen, die so etwas machen, sollten sich mal nur eine Sekunde vorstellen, sie würden selbst dort liegen.“
Lina Jacobs kommt das alles so unwirklich vor. „Ich hatte hinterher das Gefühl, zwei Stunden dort gestanden zu haben“, sagt sie später. „Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn ja nicht retten konnte.“Dabei macht sie alles, was sie in diesem Moment machen kann. „Ich bin so stolz auf meine Tochter. Sie hat eine Dreiviertelstunde lang stur die Decke hochgehalten, hat Zivilcourage gezeigt“, sagt Sandra Jacobs. Schon im Kindergarten sei sie so charakterstark gewesen, habe den Kindern geholfen, wenn sie hingefallen sind.
Lina Jacobs hat in der Schule nur erzählt, dass ihre Mutter ein Interview geben wird. Dass sie selbst eine der Heldinnen vom Marienplatz ist, hat sie verschwiegen. „Ich möchte dafür eigentlich keine Aufmerksamkeit haben“, sagt sie. Für sie sei das Ganze selbstverständlich gewesen. „Vielleicht habe ich das von meiner Mutter. Sie ist Altenpflegerin und hilft jeden Tag Menschen“, sagt sie. „Ich würde es auf jeden Fall immer wieder so machen.“Ihre Mutter stimmt ihr zu: „Es war das Mindeste, was wir machen konnten.“
Im Krankenhaus stirbt der Mann. Sandra Jacobs erfährt es über eine Meldung im Internet. Zuvor hat sie versucht, eine Auskunft im Krankenhaus zu bekommen. Doch man will ihr nichts sagen, weil sie keine Angehörige ist. „Das habe ich mir vorher schon gedacht, aber versuchen wollte ich es trotzdem“, sagt sie. „Es hat mich nicht losgelassen.“Am Abend erzählt sie es ihrer Tochter. Lina reagiert zurückhaltend. „Das tut mir sehr leid“, habe sie zu ihrer Mutter gesagt. Später sagt sie: „Mir ist das sehr nahe gegangen, aber ich wollte nicht darüber reden.“Wenn die beiden Frauen jetzt über den Marienplatz gehen, bekommt Sandra Jacobs Gänsehaut. Lina Jacobs hat ein komisches Gefühl. Das Geschehene wird sie so schnell nicht loslassen. Helfen würden sie aber immer wieder.
„Da kämpft ein Mensch um sein Leben, und andere Menschen wollen das filmen. Das ist so abstoßend.“