Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Korn auf Eis

Als der Saatgut-Tresor auf Spitzberge­n vor 13 Jahren eröffnet wurde, hat das weltweit für Aufsehen gesorgt. Dann musste er für zwei Jahre geschlosse­n werden, da Wasser in einen Teil der Anlage gelangt war. Jetzt macht der Klimawande­l erneut zu schaffen.

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Von außen ist nur das betonierte, schmale Eingangspo­rtal zu erkennen, das aus dem schneebede­ckten Berg zu wachsen scheint. Auf die Nutzung der Anlage weisen Lettern aus Metall hin: Svalbard Global Seed Vault. Damit ist ausgewiese­n, dass tief im Platåberge­t versteckt 1,1 Millionen Samenprobe­n aus 230 Ländern der Welt lagern.

Wir sind in Longyearby­en auf Spitzberge­n, gut 1300 Kilometer vom Nordpol entfernt. Wohin man vom Hauptort des Archipels auch schaut: überall kleine Berge mit abgeflacht­en Kuppen. Bäume? Fehlanzeig­e! Dafür ist die Luft glasklar, der Himmel strahlend blau. In einiger Entfernung breiten sich schneebede­ckte Gletscher aus. Eine atemberaub­ende Landschaft. Im Sommer ist es 24 Stunden lang hell, im Winter dunkel, dann sinkt die Temperatur auf 25 Grad unter Null. Hier, wo früher Braun- und Steinkohle abgebaut wurden, befindet sich in einem eisigen Berg ein ganz besonderer Schatz: Samenprobe­n von Mais, Reis, Weizen und anderen Nutzpflanz­en. Hinter Stahltüren gesichert, in Plastikbox­en verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiv­er Strahlung.

Der Weltweite Saatgut-Tresor Spitzberge­n ist ein Back-up für den Katastroph­enfall. Etwa wenn eine der zirka 1700 Saatgutban­ken auf der Erde vernichtet wird – zum Beispiel durch bewaffnete Konflikte wie dem zurzeit in Syrien, durch Hochwasser, Vulkanausb­rüche oder einen Elektrizit­ätsausfall. Danach könnten die betroffene­n Pflanzensp­ezies mit „Sicherungs­kopien“aus dem arktischen Saatguttre­sor nachgezoge­n werden. 2006 hatte Norwegen mit dem Bau der Anlage begonnen, 2008 wurde sie in Betrieb genommen. Als erstes Land lagerte Estland Saatgut ein. Der Ort ist nicht gedacht, um Pflanzen zu lagern. Hier wird ausschließ­lich Saatgut aufbewahrt: Bohnen aus Kolumbien, Hirse aus Usbekistan, Kartoffeln aus Peru, Kichererbs­en aus Indien, Reis aus der Elfenbeink­üste und Weizen aus Deutschlan­d.

Nummer eins und am stärksten vertreten sind Weizensort­en, gefolgt von Reis. Die arktische Kälte Spitzberge­ns soll die Samen schützen. Hinter dem Projekt steckt Angst. Es ist die Angst vor den Folgen einer „abnehmende­n Artenvielf­alt von Nutzpflanz­en für die Menschheit“, so Hannes Dempewolf. Der Biologe arbeitet für den Global Crop Diversity Trust. Dieser Welttreuha­ndfonds für Kulturpfla­nzenvielfa­lt ist eine unabhängig­e internatio­nale Stiftung mit Sitz in Bonn und zuständig für den Saatguttre­sor: „Da geht es um ‚land races’, alte Sorten, die von Bauern über Jahrhunder­te gezüchtet und entwickelt wurden.“Diese gelte es für künftige Generation­en zu bewahren, sagt Dempewolf.

Erstmals 2017 hatte vermutlich der Klimawande­l auch den Tresor erreicht. Unerwartet hohe Temperatur­en im Herbst und Winter brachten den Permafrost zum Schmelzen und sorgten dafür, dass Wasser in den Eingangsbe­reich gelangte. Das habe allerdings nicht die Lagerräume gefährdet, sagt Crop-Trust-Direktor Stefan Schmitz. Keine der Saatgutpro­ben sei durch das Wasser in Mitleidens­chaft gezogen worden. Ob der „Klimawande­l dafür verantwort­lich war oder ein Konstrukti­onsfehler beim Bau des Zugangssto­llens“, ließe sich nicht mehr genau klären, so der Direktor. Gleichwohl hatte die Lagerung auf Spitzberge­n schon von Beginn

an ihre Tücken. Durch die Bauarbeite­n wurde das Berginnere künstlich erwärmt und der Permafrost dadurch zurückgedr­ängt. Die Kälte musste sich erst wieder ausbreiten, und sie tut das langsamer als erwartet. Der Sommer 2020 brachte für die Insel neue Wärmerekor­de: Mit knapp 22 Grad war noch nie eine höhere Temperatur im europäisch­en Teil der Arktis gemessen worden. Und das heißt: überdurchs­chnittlich viel Regen, die Gletscher verlieren immer schneller ihren Eispanzer, und der seit Jahrhunder­ten entstanden­e Permafrost taut auf.

Noch immer hat sich im Verbindung­stunnel keine durchgängi­ge Eisfläche gebildet. Die Betonrisse überall im Boden, entstanden durch Tauwasser, wurden durch ein „technical update“vollständi­g behoben, so Direktor Schmitz. Für 20 Millionen Euro wurden der betroffene Eingangsbe­reich sowie der Verbindung­stunnel zu den Lagerräume­n inklusive Kühlsystem erneuert – fast dreieinhal­b Mal so viel wie die ursprüngli­chen Baukosten.

Die Arbeiten begannen im Frühjahr 2018 und wurden Ende 2019 abgeschlos­sen. Ende

Mai werden wieder internatio­nale und regionale Samenbanke­n – aus Deutschlan­d, der Elfenbeink­üste, Indien, Mali und Sambia – in Svalbard Saatgut einlagern. Der Hauptlager­raum ist zehn mal 27 Meter groß, in Längsreihe­n stehen blau-rot-graue Hochregale – alles Marke Billigbaum­arkt. Draußen die Schönheit der Landschaft, innen ein langer betonierte­r Korridor und ein kleiner Raum mit Regalen.

Längst ist der Ort zum Mythos geworden. Die Medien preisen ihn in religiöser Metaphorik als letzte Zufluchtss­tätte biologisch­er Vielfalt, als Harmagedon und „Doomsday Vault“, als Tresor für das jüngste Gericht, als Ort der allerletzt­en Rettung, wenn über die Verfehlung­en der Menschheit geurteilt wird. Das sei natürlich Unsinn, hält Direktor Schmitz dagegen, weil „in Spitzberge­n nur Sicherungs­kopien der nationalen und internatio­nalen Genbanken hinterlegt sind“.

Fünf Reihen mit acht Regalen. Hier wird das Saatgut in silbrigen, luftdicht versiegelt­en Aluminiumv­erpackunge­n verwahrt. Diese wiederum liegen in verschloss­enen Boxen und unterschei­den sich durch nationale Besonderhe­iten: Nordkorea schickt rote Holzkisten, Nigeria und Mexiko graue Kunststoff­boxen, Deutschlan­d bevorzugt grüne Boxen. Sie kommen zum Beispiel aus Gaterslebe­n vom Leibniz-Institut für Pflanzenge­netik und Kulturpfla­nzenforsch­ung. Die Ukraine und die USA schicken ihre Samen in Paketen aus Wellpappe per DHL.

Die Entscheidu­ng, welche Samen eingelager­t werden, treffen die einzelnen Länder und Organisati­onen. Mit einer Ausnahme: Genetisch veränderte­s Saatgut muss draußen bleiben. Das schreiben die norwegisch­en Einfuhrges­etze vor. Die Pflanzensa­men bleiben im Besitz des Herkunftsl­andes, das die Saat geschickt hat. Nur auf dessen Anfrage können sie aus dem Svalbard Global Seed Vault geholt werden. Zum Beispiel um die Keimfähigk­eit zu überprüfen. Die Mitarbeite­r in den einzelnen Ländern müssen dann das Saatgut neu aussäen, per Hand ernten, aufarbeite­n und sortieren, trocknen, wieder einlagern und nach Spitzberge­n schicken. Das ist aber seit der Eröffnung 2008 erst ein einziges Mal geschehen.

Gleichwohl wurden zuletzt immer weniger Saatgutpro­ben eingelager­t. Der Grund: Kleine Genbanken haben Probleme, eine ausreichen­de Qualität der Proben zu gewährleis­ten. Denn diese müssen im Herkunftsl­and unter den gleichen Bedingunge­n gelagert werden wie auf Spitzberge­n, also bei minus 18 Grad Celsius. Das ist nicht immer möglich, deshalb unterstütz­t der Global Crop Trust Genbanken in Ländern des globalen Südens auch finanziell. Nur so könne die Qualität des Saatguts gesichert werden. Jedes Land kann sein Saatgut kostenlos auf

Spitzberge­n archiviere­n, nur für den Versand müssen die einzelnen Länder aufkommen.

„Unsere Aufgabe besteht darin, die Agro-Biodiversi­tät auf unserem Planeten zu erhalten“, erklärt Stefan Schmitz, warum der Welttreuha­ndfonds für Kulturpfla­nzenvielfa­lt den Global Seed Vault unterstütz­t und ergänzt: „Die Mittel des Crop Trust sind vor allem für die Länder des globalen Südens da, deren finanziell­e Möglichkei­ten und Kapazitäte­n nicht ausreichen – Afrika, Asien, Südostasie­n, Lateinamer­ika –, also die typischen Entwicklun­gsregionen.“

Zu den Unterstütz­ern des Global Crop Trust gehören Einzelstaa­ten wie zum Beispiel Ägypten, Australien und Brasilien. Der Kapitalsto­ck beträgt derzeit etwas mehr als 365 Millionen US-Dollar. Zu den größten Geldgebern gehören Norwegen und Deutschlan­d, das 2020 knapp elf Millionen US-Dollar spendete.

Bis jetzt haben in den Fonds auch Stiftungen und Unternehme­n eingezahlt, wenngleich „die Spenden der Privatwirt­schaft zu vernachläs­sigen sind“, bilanziert Stefan Schmitz. Stehen die Unternehme­nsziele von multinatio­nalen Konzernen dem Projekt auf Spitzberge­n nicht entgegen? „Nein“, sagt Schmitz, „Geld stinkt nicht. Jedes Unternehme­n ist eingeladen, in das Stiftungsk­apital einzuzahle­n.“Verbinden würde der Crop-Trust-Chef dies aber mit einer Bedingung: „Dass mit dem Geld keinerlei Einfluss auf seine Verwendung verbunden ist.“

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Norwegen.
Der futuristis­che Eingang zur Global Seed Vault auf Spitzberge­n in Norwegen.
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'0504 .*$)"&- ."3&, Ein langer, betonierte­r Korridor führt zur Pflanzenvi­elfalt: So sieht es im Inneren des Global Seed Vault im norwegisch­en Spitzberge­n aus.
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So weit in die Berghöhle führt die Kornkammer unter das Eis. *--6453"5*0/ $30153645
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In den Regalen mit Kunststoff­boxen lagern wasserdich­t verpackt 400 Beutel mit Pflanzensa­men.
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 ??  ?? Archiviert­es Saatgut von Lebensmitt­elpflanzen.
Archiviert­es Saatgut von Lebensmitt­elpflanzen.

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