Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Warum Inzidenzwerte wichtig bleiben
Experten sehen sie als hilfreiche Richtschnur. Denn die Delta-Variante ist ein neuer Unsicherheitsfaktor.
Sinkende Infektionszahlen und steigende Impfquote: Es stellt sich die Frage, ob die Inzidenzwerte noch der richtige Maßstab zur Bewertung der epidemischen Lage sind. Bisher dient diese Kennzahl, die die Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen anzeigt, als Bemessungsgrundlage aller politischen Maßnahmen zur Einschränkung, aber auch zur Lockerung. Gesundheitsexperten und -politiker halten an dem Wert fest – aus unterschiedlichen Gründen.
Ute Teichert, die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, argumentiert mit der Akzeptanz in der Breite der Bevölkerung. „Wir sollten trotz der steigenden Impfzahlen und der daraus resultierenden milden Verläufe weiter auf die Inzidenzzahlen schauen – nicht weil dies das beste Maß zur Erfassung der Infektionsdynamik und der Pandemierisiken ist, sondern weil es das etablierte Maß ist, das die Menschen kennen und verstehen. Bitte kein neues Begriffschaos und bitte keine neue Verwirrung“, betonte Teichert. Nach den Worten des SPD-Gesundheitsexperten Karl
Lauterbach gibt die Inzidenz einen guten Überblick über die Zahlen der Infizierten und sollte daher der Maßstab bleiben. „Zusätzlich aber müssen weitere Indikatoren wie die Sterblichkeit, schwere Verläufe und Long Covid mitbedacht werden“, so Lauterbach.
Auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, Christian Karagiannidis, plädiert dafür, andere Marker wie die Intensivneuaufnahmen stärker zu berücksichtigen. Im bisherigen Pandemieverlauf sei die Entwicklung der Intensivaufnahmen weitgehend parallel zu den Inzidenzen verlaufen. Jedoch
könne es im Laufe dieses Jahres zu einer Entkoppelung der beiden Parameter kommen, sagte Karagiannidis. Der Intensivmediziner erklärt das mit dem Impffortschritt bei besonders gefährdeten Menschen. Wenn im Herbst die Infektionszahlen wieder steigen, die vulnerablen Gruppen bis dahin aber sehr gut geimpft seien, „könnte es auch bei höheren Inzidenzen viel weniger schwere Verläufe geben“, sagte Karagiannidis. Generell aber bleibe der Inzidenzwert wichtig, weil er „die Infektionsdynamik sehr gut widerspiegelt“.
Und die nimmt derzeit kontinuierlich ab. Am Sonntag lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz nach RKI-Angaben bei 8,8 (Vorwoche: 17,3). Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen sank am Wochenende unter 1000 – das ist der niedrigste Wert seit Oktober. Die Impfquote der vollständig Geimpften lag am Samstag laut RKI bei 30,4 Prozent (25,4 Millionen Menschen); bei den Erstimpfungen betrug sie bereits 50,6 Prozent (42 Millionen). Trotz der Entspannung aber wächst die Sorge vor der Delta-Virusvariante. Unter Experten gilt es als weitgehend unbestritten, dass diese ansteckendere Variante
sich in Deutschland durchsetzen wird. Fraglich ist nur, bis wann. Der Berliner Virologe Christian Drosten sieht Deutschland mittlerweile „im Rennen“mit der Delta-Variante. „Wir müssen das ab jetzt wirklich ernst nehmen“, sagte Drosten am Freitag.
Auch für SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach steht fest, dass Delta sich durchsetzen wird. „Damit wird diese oder eine noch gefährlichere Variante irgendwann auch alle, die noch nicht geimpft sind, erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit“, sagte Lauterbach. Er begründet damit auch, warum niedrige Inzidenzen weiterhin das Ziel sein sollten. „Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass wir uns eine höhere Inzidenz leisten können, wenn die Impfquote weiter steigt“, sagte der SPD-Mann. Er nimmt ein Rechenbeispiel vor: „Angenommen, wir haben eine Impfquote von
66 Prozent, also zwei Drittel der Bevölkerung wären vollständig geimpft, und die Inzidenz läge bei 30. Das würde bedeuten, dass unter den Ungeimpften die Inzidenz sogar bei
90 läge.“Menschen ohne Impfschutz seien einem viel höheren Risiko ausgesetzt. „Je stärker die Delta-Variante sich verbreitet, desto mehr ungeimpfte Menschen würden auch sterben“, warnte Lauterbach.