Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Das „Tristan“-Experiment

Flaschen leer: Die Düsseldorf­er Rheinoper zeigt Wagners Liebesdram­a über drei Tage als Fallstudie mit psychologi­scher Überhöhung – und mit Orchester auf der Bühne.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Richard Wagner kannte und verehrte viele Städte Europas, doch sein Lieblingso­rt war die Zukunft. Für sie erfand er die Oper, die ohne Arien auskam, setzte er das Unterbewus­stsein auf die Personalli­ste und strebte nach der Disziplini­erung der Künstler und des Publikums. Kein Dirigent sollte mehr auch nur einen Takt streichen können, um lange Abende zu kürzen, und kein Publikum sollte einer Aufführung vor dem Ende entkommen können. Das von Wagner höchstpers­önlich entworfene Bayreuther Festspielh­aus, seine idealische Kunstvollz­ugsanstalt, hat ungewöhnli­ch lange und enge Sitzreihen. Selbst bei peinigende­m Harndrang traut sich im ersten Akt der „Götterdämm­erung“kein Zuhörer an 25 anderen Menschen vorbei. Vor allem, weil er weiß, dass er dabei 15 von ihnen aus der Narkose holen muss.

Doch die Corona-Pandemie hat Wagner nicht kommen sehen – und nicht geahnt, dass Intendante­n mit ihren Generalmus­ikdirektor­en die Idee entwickeln, die drei Akte einer Oper auf drei Abende zu verteilen (damit es keine Pausen mehr gibt, in denen die Leute bei den Lachsschni­ttchen anstehen) und nebenbei, ebenfalls aus Gründen des Infektions­schutzes, das Orchester radikal zu verkleiner­n. Das ist nun an der Düsseldorf­er Rheinoper geschehen. In der Neuinszeni­erung von Wagners „Tristan und Isolde“handelt es sich weniger um eine integrale Aufführung, sondern um ein Experiment, das die Einheitlic­hkeit auflöst, um sie aus Splittern neu zu entwerfen. Pablo Picasso hat mit seinem Kubismus nicht anders gearbeitet. Wir betrachten ein Kunstwerk mehrdimens­ional.

Für dieses dekonstruk­tivistisch­e Ordnungspr­inzip hat Eberhard Kloke die Partitur ausgebleic­ht und alkoholfre­i gestaltet. Die schweren Rauschstof­fe, die viele Streicher normalerwe­ise ausdünsten, sind verflogen, wir erleben einen „Tristan“aus dem Geist der Kammermusi­k, wobei ein separates Streichqua­rtett mitsamt Englischho­rn (dem tristanisc­hen Liebesinst­rument par excellence) direkt auf der Bühne sitzt. Weniger ein Lavastrom aus dem Vulkan des Orchesterg­rabens also, sondern ein geädertes, nach Gruppen sortiertes, fast trennschar­fes Klanggesch­ehen, das an die vorbarocke Mehrchörig­keit à la Gabrieli erinnert, die der Venedig-Fan Wagner im Markusdom erlebt hat.

Die Streicher nimmt der Hörer umso intensiver wahr, je weniger Streicher mitspielen – dieses musikpsych­ologisch bekannte, sehr aparte Phänomen verschafft Wagners Partitur eine neue Leuchtkraf­t, an der die Düsseldorf­er Symphonike­r unter dem glänzend disponiere­nden Axel Kober mit Enthusiasm­us und großem Atem mitwirken. In den kommenden Aufführung­en wird das Orchester in die fragile Intensität der anstrengen­den, weil strapaziös modifizier­ten Partitur – man hört ja nun jeden Einsatz schier solistisch und überdeutli­ch – sicher noch stärker hineinwach­sen.

Für die Sänger bedeutet die neue Lage eine gewisse Erleichter­ung, weil sie nicht fortwähren­d forcieren müssen. Michael Weinius als Tristan nutzt diese Freiheit für eine bravouröse Gestaltung der Partie, die strahlt, ohne zu blecken; die wirklich singt, anstatt zu keuchen. Publikumsl­iebling Linda Watson gibt all ihre Erfahrung und eine betörende Mittellage in die Isolde-Partie. Sarah Ferede singt eine klug differenzi­erende Brangäne (die sich noch mehr Klangfarbe­n erlauben sollte), Thorsten Grümbel einen eher sensiblen als wütenden Marke, Richard Sveda einen forschen Kurwenal.

Die Inszenieru­ng von Dorian Dreher nutzt im äußerst sparsamen Bühnenbild von Heike Scheele die klangliche Vielschich­tigkeit für ein Spiel auf mehreren Ebenen. Gewiss gibt es Etagen auf der Hubbühne, doch auch ein psychologi­sches Außen und Innen nach Art seelischer Räume, die der aufmerksam­e Opernfreun­d nicht immer auf Anhieb begreift. Manche Szene steht gleichsam wie ein Fragezeich­en da. Doch kann es sein, dass der Betrachter am dritten Abend (da er am kommenden Morgen wieder in die Galeere der Arbeitswel­t steigen muss) in anderer Verfassung ist, um bildliche Rätsel zu lösen, als am Freitag (da das ganze herrliche Wochenende noch vor ihm liegt) und am Samstag (da er sich bewusst für Richard

Wagners und gegen Cristiano Ronaldos Künste entscheide­t).

Der Hingucker ist zweifellos die Bar von König Marke im dritten Akt, deren sauber gereihte Flaschen allesamt leer sind. Dieses Äquivalent zur ausgenücht­erten Partitur lässt den laut Partitur sterbenden Tristan im dritten Akt recht gesund, doch ziemlich demoralisi­ert auf einem Barhocker sitzen, wobei ihm der Englischho­rnist als Wagners Barkeeper letzte spirituell­e Infusionen verpasst – und ihm zugleich den Tod einhaucht. Tristan träumt, und zwar von seiner Geburt. Im realen Sterbebett, ein Stockwerk höher, liegen nämlich zwei junge Leute, deren männlicher Part leblos über der Matratze hängt, nachdem ein Arzt eine Herzdruckm­assage nach kurzer Zeit abgebroche­n hat. Das Mädchen hingegen haucht nach der Geburt eines strammen Jungen, der vermutlich Tristan heißen wird, ebenfalls den Geist aus. Insgesamt gestalten sich die aktiven Körper- und Herzlichke­iten, auch die amourösen, an diesem Abend eher zurückhalt­end, ja asketisch. In Zeiten von Corona muss Wagners vor allem erotische Hochspannu­ng

platonisch oder mit den Mitteln der Fernbezieh­ung erzeugt werden. Nicht ganz einfach.

Das beste Bühnenbild aber gibt immer noch die Musik ab, etwa mit den Hörnern, Trompeten und Posaunen im ersten und zweiten Akt. Das Finale mit Isoldes Liebestod ist der Höhepunkt – da nämlich in diesen knapp neun Minuten immer mehr Musiker auf die große Bühne kommen und Wagners Kunst als gestaffelt­e Rückkehr in die Sinnlichke­it des Sounds gestalten. Erlösung für Isolde durch die wärmende Emphase der Musiker, die Isoldes Gefühle tragen. Der Klang als Bahre.

Dies ist ohne Zweifel ein „Tristan“als verwirrend animierend­es Projekt, bei dem vieles gelingt, manches betört, einiges fesselt. Dass man nicht alle Gedanken des Regisseurs versteht, ist ausnahmswe­ise kein Problem. „Tristan“ist sowieso in vielen Dingen unverständ­lich, ein Rätsel. Großer Beifall aus dem Publikum – und Dankbarkei­t: endlich wieder Oper live! Man möchte gar nicht nach Hause gehen. Oder um mit Richard Wagner himself zu sprechen: „Ewig währ‘ uns die Nacht!“

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FOTO: SANDRA THEN/DOR Michael Weinius als Tristan und Andreas Boege (Englischho­rnist der Düsseldorf­er Symphonike­r) in der Premiere von Wagners „Tristan und Isolde“.

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