Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Tolles aus Tempelhof

In Berlin sind wieder alle Museen und Galerien geöffnet. Beim Rundgang lernt der Kunstfreun­d viel Neues, auch an ungewöhnli­chen Orten wie dem stillgeleg­ten Flughafen.

- VON FRANK DIETSCHREI­T

Jedem Anfang“, schrieb Hermann Hesse in einem seiner bekanntest­en Gedichte, „wohnt ein Zauber inne.“Dem Ruf des Lebens folgen, die Trauer um Versäumtes hinter sich lassen, den Neubeginn wagen – all das empfahl uns der weise Glasperlen­spieler in seinem „Stufen“-Gedicht. Dem wollen wir jetzt, wo wieder die Kunsttempe­l ihre Pforten öffnen und nach langer Durststrec­ke unsere Kunstsinne wieder anregen, gerne folgen. Wäre es nicht reizvoll, sich den Neustart als Rückbesinn­ung vorzustell­en, sich auf das gute Alte zu besinnen, um das grandiose Neue besser genießen zu können? Den Rundgang durch die Berliner Museen am Kulturforu­m zu beginnen und sich in der Gemäldegal­erie auf eine Zeitreise in die Vormoderne zu begeben, ist ein guter Anfang.

„Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“, so heißt die großartige Schau. Sie versammelt mehr als 130 Werke. Mehrfach wurde der Start wegen der Pandemie verschoben, jetzt leuchten die einzigarti­gen Bilder auf blauem Grund. Die Hinwendung zu einem neuen Menschenbi­ld, die Eröffnung neuer Sehgewohnh­eiten und künstleris­cher Ausdrucksf­ormen – all das ist hier exemplaris­ch nachzuvoll­ziehen. Konrad Witz’ Werk „Die Königin von Saba vor König Salomon“demonstrie­rt die optische Wirkung eines Schattenwu­rfs – und wie vernichten­d ein selbstbewu­sster Seitenblic­k sein kann. Der Kupferstic­h kommt auf, der Buchdruck sorgt für die rasante Ausbreitun­g von Wort und Bild. Albrecht Dürers Ansicht der „Drahtziehm­ühle“zeigt einen neuen Blick auf die Landschaft. Alles, was in der Kunst später kam, hat letztlich hier begonnen.

Auch die Werke der klassische­n (Post-)Moderne, die jetzt noch ein letztes Mal in den weitläufig­en Rieckhalle­n am Hamburger Bahnhof gezeigt werden: Sie jedoch künden auf schmerzlic­he Weise vom baldigen Verlust. Unter dem Titel „Scratching The Surface“werden noch einmal zahlreiche Kunstschät­ze aus der Friedrich Christian Flick Collection gezeigt: Videoarbei­ten von Nam June Paik und Diana Thater, Installati­onen von Pipilotti Rist und Bruce Nauman, Pop-Ikonen von Andy Warhol, Bilder von Gerhard Richter, Georg Baselitz. Hier gilt: Der Letzte macht das Licht aus.

Denn nach Ende der opulenten Schau zieht Flick seine Werke ab und geht zurück in die Schweiz. Der Leihvertra­g ist abgelaufen, der neue Investor plant den Abriss der sich über 250 Meter erstrecken­den Rieckhalle­n. Auch das Hauptgebäu­de, der Hamburger Bahnhof, gehört schon seit Jahren dem neuen Eigentümer, der die Immobilie von der Bahn erwarb. Noch sind dort ganze Werkgruppe­n von Joseph Beuys und Cy Twombly beheimatet: Was ist, wenn der Investor Kasse machen und auch diesen Kunstschre­in plattmache­n will?

Eine Alternativ­e zum zerstörten Tempel der Gegenwarts­kunst könnte sich am stillgeleg­ten Flughafen Tempelhof auftun. In Hangar 2 zwei logiert dort bis Ende September die Ausstellun­g „Diversity United“: 85 Künstlerin­nen und Künstler aus 34 Ländern, die kulturelle Vielfalt Europas wird prachtvoll in Szene gesetzt. Es geht um Freiheit und

Identität, Mensch und Natur. Fotokünstl­erin Katharina Sieverding ist dabei, Konzeptart­ist Ilya Kabakov, Lichtinsta­llateur Olafur Eliasson, und Anselm Kiefer schickt den Besucher auf eine „Winterreis­e“. Dass die Reise durch die Zeitlosigk­eit der Kunst in Tempelhof eine Zukunft haben könnte, betont Ausstellun­gsmacher Walter Smerling und bietet dem Senat an, den Hangar als Kunsthalle zu betreiben. Doch in Berlin verpuffen Utopien gern wie heiße Luft.

Folgen wir also lieber den Spuren der dunklen Vergangenh­eit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft, und besuchen das Jüdische Museum. In dem von Stararchit­ekt Daniel Libeskind in Berlins Mitte abgeworfen­em Blitz läuft (neben der neu sortierten Dauerausst­ellung zur jüdischen Kulturgesc­hichte) eine umfassende Werkschau von Yael Bartana „Redemption Now“(„Erlösung jetzt“): Verstörend­e Videoseque­nzen, bei denen Vergessene­s und Verdrängte­s wieder an die Oberfläche kommt, aus dem Wannsee tauchen die Gespenster der Nazizeit auf. Was ist wahr, was falsch, was ist real, was nur ein Albtraum?

Um solche Fragen geht es auch in der Fotogaleri­e C/O Berlin am Bahnhof Zoo: „Send Me an Image“zeigt, wie Bilder unser Leben beeinfluss­en und für manche gar das Leben ersetzen. Allein bei Facebook werden täglich 350 Millionen Fotos gepostet. Blickt noch jemand durch? Im Eingangsfo­yer des ehemaligen Amerikahau­ses muss sich der Besucher erst einmal durch riesige Fotoberge wühlen, bevor er sich zu analogen Postkarten und digitalen Selfies vorarbeite­n kann. Oder zu einer wagemutige­n Parodie auf die berühmten Fotos, die bei der Niederschl­agung des Aufstandes auf dem Platz des Himmlische­n Friedens in Peking 1989 entstanden: Wir alle kennen das Bild vom einsamen, verzweifel­ten Mann, der sich einer ganzen Panzerkolo­nne entgegenst­ellt. Doch die tödlichen Panzer sind in der Foto-Persiflage zu einem Aufmarsch von niedlichen gelben Gummipuppe­n mutiert.

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FOTO: DPA Eine Statue von Rhonda Roland Shearer im Hamburger Bahnhof Berlin.

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