Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Tolles aus Tempelhof
In Berlin sind wieder alle Museen und Galerien geöffnet. Beim Rundgang lernt der Kunstfreund viel Neues, auch an ungewöhnlichen Orten wie dem stillgelegten Flughafen.
Jedem Anfang“, schrieb Hermann Hesse in einem seiner bekanntesten Gedichte, „wohnt ein Zauber inne.“Dem Ruf des Lebens folgen, die Trauer um Versäumtes hinter sich lassen, den Neubeginn wagen – all das empfahl uns der weise Glasperlenspieler in seinem „Stufen“-Gedicht. Dem wollen wir jetzt, wo wieder die Kunsttempel ihre Pforten öffnen und nach langer Durststrecke unsere Kunstsinne wieder anregen, gerne folgen. Wäre es nicht reizvoll, sich den Neustart als Rückbesinnung vorzustellen, sich auf das gute Alte zu besinnen, um das grandiose Neue besser genießen zu können? Den Rundgang durch die Berliner Museen am Kulturforum zu beginnen und sich in der Gemäldegalerie auf eine Zeitreise in die Vormoderne zu begeben, ist ein guter Anfang.
„Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit“, so heißt die großartige Schau. Sie versammelt mehr als 130 Werke. Mehrfach wurde der Start wegen der Pandemie verschoben, jetzt leuchten die einzigartigen Bilder auf blauem Grund. Die Hinwendung zu einem neuen Menschenbild, die Eröffnung neuer Sehgewohnheiten und künstlerischer Ausdrucksformen – all das ist hier exemplarisch nachzuvollziehen. Konrad Witz’ Werk „Die Königin von Saba vor König Salomon“demonstriert die optische Wirkung eines Schattenwurfs – und wie vernichtend ein selbstbewusster Seitenblick sein kann. Der Kupferstich kommt auf, der Buchdruck sorgt für die rasante Ausbreitung von Wort und Bild. Albrecht Dürers Ansicht der „Drahtziehmühle“zeigt einen neuen Blick auf die Landschaft. Alles, was in der Kunst später kam, hat letztlich hier begonnen.
Auch die Werke der klassischen (Post-)Moderne, die jetzt noch ein letztes Mal in den weitläufigen Rieckhallen am Hamburger Bahnhof gezeigt werden: Sie jedoch künden auf schmerzliche Weise vom baldigen Verlust. Unter dem Titel „Scratching The Surface“werden noch einmal zahlreiche Kunstschätze aus der Friedrich Christian Flick Collection gezeigt: Videoarbeiten von Nam June Paik und Diana Thater, Installationen von Pipilotti Rist und Bruce Nauman, Pop-Ikonen von Andy Warhol, Bilder von Gerhard Richter, Georg Baselitz. Hier gilt: Der Letzte macht das Licht aus.
Denn nach Ende der opulenten Schau zieht Flick seine Werke ab und geht zurück in die Schweiz. Der Leihvertrag ist abgelaufen, der neue Investor plant den Abriss der sich über 250 Meter erstreckenden Rieckhallen. Auch das Hauptgebäude, der Hamburger Bahnhof, gehört schon seit Jahren dem neuen Eigentümer, der die Immobilie von der Bahn erwarb. Noch sind dort ganze Werkgruppen von Joseph Beuys und Cy Twombly beheimatet: Was ist, wenn der Investor Kasse machen und auch diesen Kunstschrein plattmachen will?
Eine Alternative zum zerstörten Tempel der Gegenwartskunst könnte sich am stillgelegten Flughafen Tempelhof auftun. In Hangar 2 zwei logiert dort bis Ende September die Ausstellung „Diversity United“: 85 Künstlerinnen und Künstler aus 34 Ländern, die kulturelle Vielfalt Europas wird prachtvoll in Szene gesetzt. Es geht um Freiheit und
Identität, Mensch und Natur. Fotokünstlerin Katharina Sieverding ist dabei, Konzeptartist Ilya Kabakov, Lichtinstallateur Olafur Eliasson, und Anselm Kiefer schickt den Besucher auf eine „Winterreise“. Dass die Reise durch die Zeitlosigkeit der Kunst in Tempelhof eine Zukunft haben könnte, betont Ausstellungsmacher Walter Smerling und bietet dem Senat an, den Hangar als Kunsthalle zu betreiben. Doch in Berlin verpuffen Utopien gern wie heiße Luft.
Folgen wir also lieber den Spuren der dunklen Vergangenheit, die ihre Schatten bis in die Gegenwart wirft, und besuchen das Jüdische Museum. In dem von Stararchitekt Daniel Libeskind in Berlins Mitte abgeworfenem Blitz läuft (neben der neu sortierten Dauerausstellung zur jüdischen Kulturgeschichte) eine umfassende Werkschau von Yael Bartana „Redemption Now“(„Erlösung jetzt“): Verstörende Videosequenzen, bei denen Vergessenes und Verdrängtes wieder an die Oberfläche kommt, aus dem Wannsee tauchen die Gespenster der Nazizeit auf. Was ist wahr, was falsch, was ist real, was nur ein Albtraum?
Um solche Fragen geht es auch in der Fotogalerie C/O Berlin am Bahnhof Zoo: „Send Me an Image“zeigt, wie Bilder unser Leben beeinflussen und für manche gar das Leben ersetzen. Allein bei Facebook werden täglich 350 Millionen Fotos gepostet. Blickt noch jemand durch? Im Eingangsfoyer des ehemaligen Amerikahauses muss sich der Besucher erst einmal durch riesige Fotoberge wühlen, bevor er sich zu analogen Postkarten und digitalen Selfies vorarbeiten kann. Oder zu einer wagemutigen Parodie auf die berühmten Fotos, die bei der Niederschlagung des Aufstandes auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 entstanden: Wir alle kennen das Bild vom einsamen, verzweifelten Mann, der sich einer ganzen Panzerkolonne entgegenstellt. Doch die tödlichen Panzer sind in der Foto-Persiflage zu einem Aufmarsch von niedlichen gelben Gummipuppen mutiert.