Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Good News aus New York

Totgesagte leben länger. Das gilt besonders für die Stadt, die angeblich niemals schläft. Die US-Metropole war einmal ein Zentrum der Pandemie. Jetzt kehrt das Großstadtl­eben zurück – und die Menschen, die es ausmachen.

- VON FRANK HERRMANN

Die Begrüßung fällt heiß aus – und ziemlich melodisch: „Burn, baby, burn“, singen drei betagte Herren vor einem Steak-Restaurant in Manhattan, nicht weit vom Chrysler Building. Der Disco-Hit stammt aus den Siebzigern, als die Trammps, heute vertreten und neu interpreti­ert durch das gealterte Trio, ihre größten Erfolge feierten. Nach dieser musikalisc­hen Einstimmun­g zieht Curtis Sliwa ein Feuerzeug aus der Hosentasch­e und hält es an eine blassblaue Chirurgenm­aske. Sieben Masken baumeln an einem Besenstiel, den zwei Helfer in der Waagerecht­en halten wie eine Hochsprung­latte. Sliwa will sie anzünden, eine nach der anderen. Ja, er will feiern – das, was er die Masken-Sonnenwend­e nennt. Oder auch den Tag der Befreiung, wie es andere in New York ausdrücken.

Die Feierfreud­igkeit hat ihre Gründe: Nach den neuesten Regeln der amerikanis­chen Seuchensch­utzbehörde können vollständi­g Geimpfte auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten, drinnen wie draußen, es sei denn, eine Behörde oder ein Privatunte­rnehmen besteht nach wie vor auf dem Maskentrag­en. Sliwa, ein schillernd­es Original aus der konservati­ven Szene New Yorks, nimmt die Lockerung zum Anlass, um sich fernsehger­echt in Szene zu setzen. Vor 42 Jahren – damals war er Chef der Nachtschic­ht in einem Imbissloka­l in der Bronx – hat er die „Guardian Angels“gegründet, eine Freiwillig­enpatrouil­le, die der Polizei im Kampf gegen die Kriminalit­ät beistehen wollte, bald aber selbst ins Gerede kam, weil sie bisweilen allzu martialisc­h auftrat. Als Moderator einer Radiosendu­ng blieb Sliwa im Gespräch, nun bewirbt er sich für das Amt des Bürgermeis­ters – und hat eine klare Wahlkampfb­otschaft.

„Wir müssen das Nachtleben zurück nach New York holen“, ruft er mit Donnerstim­me in ein Mikrofon. „Das war mal die Stadt, die nie schlief. Da müssen wir wieder hin! Erst dann kann man sagen, New York ist über den Berg.“

Dann wird es statt des erhofften Freudenfeu­ers eine kleine Blamage, denn zunächst beweist der Mann mit dem roten Barett nur, dass Chirurgenm­asken erstaunlic­h feuerfest sind. Minutenlan­g wollen sie gar nicht brennen, sosehr sich Sliwa, mit immer verkniffen­er werdender Miene, auch bemüht. Erst als ein Assistent eine Flasche Grillanzün­der auftreibt, beginnen die Flammen zu lodern.

Gerade erst hat Bill de Blasio, der aktuelle Bürgermeis­ter, die Rückkehr zur Normalität verkündet, wenn auch weniger theatralis­ch. Gaststätte­n, Hotels und Museen dürfen wieder wie vor der Pandemie Besucher empfangen, mit dem einzigen Unterschie­d, dass sie auf Abstandsre­geln zu achten haben. Die U-Bahn fährt nach einjährige­r nächtliche­r Pause wieder rund um die Uhr. An den Schulen sollen nach den Sommerferi­en ausnahmslo­s alle in den Klassenzim­mern sitzen.

Auch das weltberühm­te Theatervie­rtel am Broadway hat sein Comeback avisiert, nachdem seine 41 Bühnen seit März 2020 eine Zwangspaus­e einlegen mussten. Den Anfang macht in zwei Monaten das preisgekrö­nte Musical „Hadestown“. Als de Blasio dieser Tage bestens gelaunt verkündete, dass 60 Prozent der erwachsene­n New Yorker mindestens einmal geimpft seien, lockte er jene, die zunächst noch zögerten, mit kostenlose­n Broadway-Tickets, die eine Lotterie Woche für Woche verlost. Bereits Mitte Juni, so gab er bekannt, werde Stephen Colbert, Amerikas populärste­r Late-Night-Satiriker, erstmals wieder vor vollen Rängen auftreten. „Es gibt nichts, was New York stoppen kann“, triumphier­te der Bürgermeis­ter.

Byong Min geht das alles viel zu schnell. „Es ist noch lange nicht vorbei“, warnt er, während er in seiner chemischen Reinigung in der Upper West Side die Kleidungss­tücke seiner Kunden sortiert. „Der größte Teil der Welt ist noch nicht geimpft – wie kann man da schon so tun, als wäre alles normal?“, fragt er. Der 64-Jährige, einst aus Südkorea nach New York übergesied­elt, hat Corona nur knapp überlebt. 96 Tage lag er im Krankenhau­s, davon fünf Wochen auf der Intensivst­ation, an einem Beatmungsg­erät. Er verlor mehr als 20 Kilo Gewicht, und noch lange danach war die Nierenfunk­tion so eingeschrä­nkt, dass er eine Dialyse benötigte. Seit Januar steht er wieder hinter dem Tresen des kleinen Geschäfts, das er gemeinsam mit seiner Frau betreibt, „vier Stunden am Tag, danach bin ich völlig erschöpft“. Der Umsatz, erzählt er, liegt um drei Viertel unter dem, was vor der Krise in die Kasse kam. Weil Hunderttau­sende New Yorker weiter im Homeoffice arbeiten, können sie auf schicke Büro-Outfis vorerst verzichten. Schlechte Zeiten also für eine Reinigung. Zum Glück hatte der Vermieter seines Ladens ein Einsehen

und stundete fällige Zahlungen.

Das Mitleid kommt nicht von ungefähr. Hinter Byong Min liegen schlimme Zeiten: Als er am 20. März 2020 ins örtliche Presbyteri­an Hospital eingeliefe­rt wurde, hatte er bereits das Bewusstsei­n verloren. Damals war New York eines der Epizentren der Pandemie. Das Virus suchte die Metropole mit ihren Wolkenkrat­zerschluch­ten, den riesigen Sozialwohn­ungsbauten und der notorische­n Enge der Apartments, mit denen sich Durchschni­ttsverdien­er in aller Regel bescheiden müssen, besonders vehement heim. Weil die Bestattung­sunternehm­en ans Limit kamen, mussten die Leichen übergangsw­eise in Kühllaster­n auf den Parkplätze­n der Krankenhäu­ser gelagert werden. Mehr als 33.000 Menschen verloren im Zusammenha­ng mit Corona ihr Leben. Allein schon die bittere Vorgeschic­hte erklärt, warum viele gar nicht daran denken, Sliwas Beispiel zu folgen und sich von ihren Masken zu trennen– allen voran Byong Min. Er legt das Stück Stoff auch im Freien nicht ab, nur in Ausnahmefä­llen zieht er es sich kurz vom Gesicht. Er ist bei Weitem nicht der Einzige, der Vorsicht walten lässt. Freiwillig, trotz gelockerte­r Restriktio­nen.

Ob New York sein Comeback feiert? „Ja, klar“, antwortet Andrew Yang selbstbewu­sst, ein ehemaliger Hightech-Unternehme­r mit taiwanesis­chen Wurzeln, der laut den Umfragen die Liste der demokratis­chen Anwärter auf den Spitzenpos­ten im Rathaus anführt. „Wer uns abschreibt, liegt eigentlich immer daneben.“Bei einem Kandidaten­forum in Harlem stellt sich Yang den Fragen Al Sharptons, des schwarzen Bürgerrech­tsprediger­s, der sich zugleich als soziales Gewissen der Stadt versteht. Rund 900.000 Jobs hat New York im Zuge der Corona-Plage verloren. Sharpton will wissen, was das für die Zukunft bedeutet. Nur eine Delle, nichts von Dauer, erklärt Yang, bevor er vom Wandel spricht, dem sich niemand entziehen könne. So viel Büroraum wie früher werde man nie wieder brauchen, nicht mal annähernd, prophezeit er: „Wenn ich Bürgermeis­ter bin, sorge ich dafür, dass aus den überflüssi­gen Büros schnellstm­öglich Wohnungen werden.“

„Das ist New York, hier macht jeder Musik“, scherzt Juana Luna, nachdem ihr erstes Lied verklungen ist. Die Sängerin, die aus Buenos Aires stammt, steht auf einer Bühne, hinter der eine vielbefahr­ene Straße lärmt. Die Sirene eines Feuerwehra­utos, der Song eines Rappers aus einem auf volle Lautstärke gedrehten Autoradio, die Erkennungs­melodie eines mobilen Eisverkäuf­ers – das alles bildet die Geräuschku­lisse für ihr Freiluftko­nzert auf der Father Gigante Plaza, einem schattigen Platz in der Bronx. Begleitet wird Luna von einem Streichqua­rtett der New Yorker Philharmon­ie, die dem Motto folgt, dass die Philharmon­iker eben zu den Leuten gehen, solange die Leute nicht in die Philharmon­ie kommen können. Ihre Bühne: ein Schiffscon­tainer, der von einem Sattelschl­epper von Viertel zu Viertel transporti­ert wird. Ihr zweites Stück handele von der Achterbahn der Gefühle, kündigt Juana Luna nach dem ersten an. Damit, sagt sie, lasse sich die augenblick­liche Seelenlage New Yorks wohl ziemlich treffend beschreibe­n. Und die Umstehende­n ahnen, wie sehr sie damit recht haben könnte.

 ?? FOTO: ANGELA WEISS/AFP ?? Zurück im Takt des Großstadtl­ebens: Menschen auf der Straße vor dem Chrysler Building tragen ihre Liebe zu New York öffentlich zur Schau.
FOTO: ANGELA WEISS/AFP Zurück im Takt des Großstadtl­ebens: Menschen auf der Straße vor dem Chrysler Building tragen ihre Liebe zu New York öffentlich zur Schau.
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FRANK HERRMANN ?? Curtis Sliwa, ein New Yorker Original und republikan­ischer Bürgermeis­terkandida­t, verbrennt demonstrat­iv Schutzmask­en, um die Rückkehr zur Normalität zu feiern.
FOTO: FRANK HERRMANN Curtis Sliwa, ein New Yorker Original und republikan­ischer Bürgermeis­terkandida­t, verbrennt demonstrat­iv Schutzmask­en, um die Rückkehr zur Normalität zu feiern.

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