Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Good News aus New York
Totgesagte leben länger. Das gilt besonders für die Stadt, die angeblich niemals schläft. Die US-Metropole war einmal ein Zentrum der Pandemie. Jetzt kehrt das Großstadtleben zurück – und die Menschen, die es ausmachen.
Die Begrüßung fällt heiß aus – und ziemlich melodisch: „Burn, baby, burn“, singen drei betagte Herren vor einem Steak-Restaurant in Manhattan, nicht weit vom Chrysler Building. Der Disco-Hit stammt aus den Siebzigern, als die Trammps, heute vertreten und neu interpretiert durch das gealterte Trio, ihre größten Erfolge feierten. Nach dieser musikalischen Einstimmung zieht Curtis Sliwa ein Feuerzeug aus der Hosentasche und hält es an eine blassblaue Chirurgenmaske. Sieben Masken baumeln an einem Besenstiel, den zwei Helfer in der Waagerechten halten wie eine Hochsprunglatte. Sliwa will sie anzünden, eine nach der anderen. Ja, er will feiern – das, was er die Masken-Sonnenwende nennt. Oder auch den Tag der Befreiung, wie es andere in New York ausdrücken.
Die Feierfreudigkeit hat ihre Gründe: Nach den neuesten Regeln der amerikanischen Seuchenschutzbehörde können vollständig Geimpfte auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten, drinnen wie draußen, es sei denn, eine Behörde oder ein Privatunternehmen besteht nach wie vor auf dem Maskentragen. Sliwa, ein schillerndes Original aus der konservativen Szene New Yorks, nimmt die Lockerung zum Anlass, um sich fernsehgerecht in Szene zu setzen. Vor 42 Jahren – damals war er Chef der Nachtschicht in einem Imbisslokal in der Bronx – hat er die „Guardian Angels“gegründet, eine Freiwilligenpatrouille, die der Polizei im Kampf gegen die Kriminalität beistehen wollte, bald aber selbst ins Gerede kam, weil sie bisweilen allzu martialisch auftrat. Als Moderator einer Radiosendung blieb Sliwa im Gespräch, nun bewirbt er sich für das Amt des Bürgermeisters – und hat eine klare Wahlkampfbotschaft.
„Wir müssen das Nachtleben zurück nach New York holen“, ruft er mit Donnerstimme in ein Mikrofon. „Das war mal die Stadt, die nie schlief. Da müssen wir wieder hin! Erst dann kann man sagen, New York ist über den Berg.“
Dann wird es statt des erhofften Freudenfeuers eine kleine Blamage, denn zunächst beweist der Mann mit dem roten Barett nur, dass Chirurgenmasken erstaunlich feuerfest sind. Minutenlang wollen sie gar nicht brennen, sosehr sich Sliwa, mit immer verkniffener werdender Miene, auch bemüht. Erst als ein Assistent eine Flasche Grillanzünder auftreibt, beginnen die Flammen zu lodern.
Gerade erst hat Bill de Blasio, der aktuelle Bürgermeister, die Rückkehr zur Normalität verkündet, wenn auch weniger theatralisch. Gaststätten, Hotels und Museen dürfen wieder wie vor der Pandemie Besucher empfangen, mit dem einzigen Unterschied, dass sie auf Abstandsregeln zu achten haben. Die U-Bahn fährt nach einjähriger nächtlicher Pause wieder rund um die Uhr. An den Schulen sollen nach den Sommerferien ausnahmslos alle in den Klassenzimmern sitzen.
Auch das weltberühmte Theaterviertel am Broadway hat sein Comeback avisiert, nachdem seine 41 Bühnen seit März 2020 eine Zwangspause einlegen mussten. Den Anfang macht in zwei Monaten das preisgekrönte Musical „Hadestown“. Als de Blasio dieser Tage bestens gelaunt verkündete, dass 60 Prozent der erwachsenen New Yorker mindestens einmal geimpft seien, lockte er jene, die zunächst noch zögerten, mit kostenlosen Broadway-Tickets, die eine Lotterie Woche für Woche verlost. Bereits Mitte Juni, so gab er bekannt, werde Stephen Colbert, Amerikas populärster Late-Night-Satiriker, erstmals wieder vor vollen Rängen auftreten. „Es gibt nichts, was New York stoppen kann“, triumphierte der Bürgermeister.
Byong Min geht das alles viel zu schnell. „Es ist noch lange nicht vorbei“, warnt er, während er in seiner chemischen Reinigung in der Upper West Side die Kleidungsstücke seiner Kunden sortiert. „Der größte Teil der Welt ist noch nicht geimpft – wie kann man da schon so tun, als wäre alles normal?“, fragt er. Der 64-Jährige, einst aus Südkorea nach New York übergesiedelt, hat Corona nur knapp überlebt. 96 Tage lag er im Krankenhaus, davon fünf Wochen auf der Intensivstation, an einem Beatmungsgerät. Er verlor mehr als 20 Kilo Gewicht, und noch lange danach war die Nierenfunktion so eingeschränkt, dass er eine Dialyse benötigte. Seit Januar steht er wieder hinter dem Tresen des kleinen Geschäfts, das er gemeinsam mit seiner Frau betreibt, „vier Stunden am Tag, danach bin ich völlig erschöpft“. Der Umsatz, erzählt er, liegt um drei Viertel unter dem, was vor der Krise in die Kasse kam. Weil Hunderttausende New Yorker weiter im Homeoffice arbeiten, können sie auf schicke Büro-Outfis vorerst verzichten. Schlechte Zeiten also für eine Reinigung. Zum Glück hatte der Vermieter seines Ladens ein Einsehen
und stundete fällige Zahlungen.
Das Mitleid kommt nicht von ungefähr. Hinter Byong Min liegen schlimme Zeiten: Als er am 20. März 2020 ins örtliche Presbyterian Hospital eingeliefert wurde, hatte er bereits das Bewusstsein verloren. Damals war New York eines der Epizentren der Pandemie. Das Virus suchte die Metropole mit ihren Wolkenkratzerschluchten, den riesigen Sozialwohnungsbauten und der notorischen Enge der Apartments, mit denen sich Durchschnittsverdiener in aller Regel bescheiden müssen, besonders vehement heim. Weil die Bestattungsunternehmen ans Limit kamen, mussten die Leichen übergangsweise in Kühllastern auf den Parkplätzen der Krankenhäuser gelagert werden. Mehr als 33.000 Menschen verloren im Zusammenhang mit Corona ihr Leben. Allein schon die bittere Vorgeschichte erklärt, warum viele gar nicht daran denken, Sliwas Beispiel zu folgen und sich von ihren Masken zu trennen– allen voran Byong Min. Er legt das Stück Stoff auch im Freien nicht ab, nur in Ausnahmefällen zieht er es sich kurz vom Gesicht. Er ist bei Weitem nicht der Einzige, der Vorsicht walten lässt. Freiwillig, trotz gelockerter Restriktionen.
Ob New York sein Comeback feiert? „Ja, klar“, antwortet Andrew Yang selbstbewusst, ein ehemaliger Hightech-Unternehmer mit taiwanesischen Wurzeln, der laut den Umfragen die Liste der demokratischen Anwärter auf den Spitzenposten im Rathaus anführt. „Wer uns abschreibt, liegt eigentlich immer daneben.“Bei einem Kandidatenforum in Harlem stellt sich Yang den Fragen Al Sharptons, des schwarzen Bürgerrechtspredigers, der sich zugleich als soziales Gewissen der Stadt versteht. Rund 900.000 Jobs hat New York im Zuge der Corona-Plage verloren. Sharpton will wissen, was das für die Zukunft bedeutet. Nur eine Delle, nichts von Dauer, erklärt Yang, bevor er vom Wandel spricht, dem sich niemand entziehen könne. So viel Büroraum wie früher werde man nie wieder brauchen, nicht mal annähernd, prophezeit er: „Wenn ich Bürgermeister bin, sorge ich dafür, dass aus den überflüssigen Büros schnellstmöglich Wohnungen werden.“
„Das ist New York, hier macht jeder Musik“, scherzt Juana Luna, nachdem ihr erstes Lied verklungen ist. Die Sängerin, die aus Buenos Aires stammt, steht auf einer Bühne, hinter der eine vielbefahrene Straße lärmt. Die Sirene eines Feuerwehrautos, der Song eines Rappers aus einem auf volle Lautstärke gedrehten Autoradio, die Erkennungsmelodie eines mobilen Eisverkäufers – das alles bildet die Geräuschkulisse für ihr Freiluftkonzert auf der Father Gigante Plaza, einem schattigen Platz in der Bronx. Begleitet wird Luna von einem Streichquartett der New Yorker Philharmonie, die dem Motto folgt, dass die Philharmoniker eben zu den Leuten gehen, solange die Leute nicht in die Philharmonie kommen können. Ihre Bühne: ein Schiffscontainer, der von einem Sattelschlepper von Viertel zu Viertel transportiert wird. Ihr zweites Stück handele von der Achterbahn der Gefühle, kündigt Juana Luna nach dem ersten an. Damit, sagt sie, lasse sich die augenblickliche Seelenlage New Yorks wohl ziemlich treffend beschreiben. Und die Umstehenden ahnen, wie sehr sie damit recht haben könnte.