Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Klimabilan­z von E-Autos in der Kritik

Wissenscha­ftler appelliere­n an die EU-Kommission, Rechenfehl­er beim CO2-Fußabdruck zu vermeiden.

- VON MARKUS GRABITZ

Der Weckruf der Wissenscha­ftler kommt, nur wenige Tage bevor die EU-Kommission neue

CO2-Flottengre­nzwerte für Autos und Lieferwage­n für das Jahr 2030 vorschlage­n will. Der neue regulatori­sche Rahmen aus Brüssel soll bewirken, dass sich das E-Auto endgültig durchsetzt. Doch nun schlägt die Wissenscha­ft Alarm: Sie weist auf einen gravierend­en Rechenfehl­er in den EU-Szenarien zur Betrachtun­g des CO2-Ausstoßes für die Stromberei­tstellung hin. Demnach sind die realen CO2-Emissionen des Sektors Elektrizit­ät im Jahr

2030 zum Beispiel für Deutschlan­d mehr als doppelt so hoch wie bislang angenommen. Die bisherige Betrachtun­gsweise, wonach das batterie-elektrisch­e Auto am klimaschon­endsten sei, gerät damit ins Wanken.

So führt die kritisiert­e Rechenmeth­ode etwa dazu, dass VWs vollelektr­ischer ID 3 mit einem Normstromb­edarf von 16,1 Kilowattst­unden (kWh) pro 100 Kilometer bei einer Laufleistu­ng von 224.000 Kilometern nach 16 Jahren insgesamt 14 Tonnen

CO2 verursacht. Dabei wird unterstell­t, dass in diesem Zeitraum die Stromprodu­ktion aus Sonne und Wind kräftig ausgebaut wird. Wenn der Rechenfehl­er beseitigt wird, sieht die CO2-Bilanz viel schlechter aus: Dann müsse bei gleicher Fahrleistu­ng

mit dem Ausstoß von 30 Tonnen Kohlendiox­id ausgegange­n werden. Dabei sei noch nicht einmal der CO2-Ausstoß eingerechn­et, der für Bau des Fahrzeugs, Betrieb bei winterlich­en Temperatur­en und für Schnelllad­everluste anfalle.

Der mathematis­che Nachweis und die Analyse der bisherigen Rechenmeth­ode wurden wissenscha­ftlich geprüft und haben das Prüfzertif­ikat für die Veröffentl­ichung in der renommiert­en Fachpublik­ation „Zeitschrif­t für Angewandte Mathematik und Mechanik“bekommen. 171 ExpertenTe­chnischer Hochschule­n aus der ganzen Welt unterstütz­en den Brief, der am

Sonntag bei der EU-Kommission einging und unserer Redaktion vorliegt. Mit dem Brief bekennen sie sich eindeutig zum „Green Deal“und der Notwendigk­eit, den Ausstoß von CO2 im Verkehrsse­ktor deutlich zu reduzieren. Alle Technologi­en wie das E-Auto, Brennstoff­zelle und Hybrid würden dafür gebraucht. Jedoch weisen sie auf ihre „grundlegen­den Bedenken“im Hinblick auf die Berechnung des CO2-Ausstoßes hin: Nach einer gründliche­n Analyse von Positionsp­apieren, Gesetzgebu­ngsentwürf­en und wissenscha­ftlichen

„Ich berufe mich auf einen 300 Jahre alten Hauptsatz der Mathematik“

Publikatio­nen sei man überzeugt, „dass die Ableitung der CO2-Emissionen im Sektor Elektrizit­ät auf einer nicht hinreichen­den Berechnung­smethode basiere“. In der Rechnung werde ein wichtiger Summand unterschla­gen. „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis“, heißt es in dem Schreiben, „dass die realen CO2-Emissionen deutlich höher sein können als angenommen.“Und weiter heißt es: Der CO2-Ausstoß könne durchaus in der Summe um den Faktor zwei höher liegen als angenommen.

Die Experten schreiben weiter: „Die E-Auto-Technologi­e ist attraktiv – jedoch hängt das Potenzial vor allem vom Anwendungs­fall ab.“Am erfolgvers­prechendst­en sei aus ihrer Sicht, wenn

CO2-neutral hergestell­te synthetisc­he Kraftstoff­e („Refuels“) in hocheffizi­enten Verbrennun­gsmotoren benutzt werden. Es wäre technisch problemlos möglich, einen Kraftstoff mit einem CO2-Minderungs­potenzial von 25 Prozent zu definieren, der für den gesamten Pkw-Bestand bedenkenlo­s einsetzbar sei.

Die Wissenscha­ftler appelliere­n an die Kommission, ihre Erkenntnis­se bei der anstehende­n Regulierun­g im Blick zu haben: Ausgerechn­et „die Antriebste­chnologie von

Thomas Koch Forscher am Karlsruher Institut

für Technologi­e

Autos mit dem niedrigste­n CO2-Ausstoß, nämlich Hybrid-Diesel, werde politisch und wirtschaft­lich anscheinen­d komplett ausgebrems­t“. Bei einem Diesel-Pkw mit nur intern aufladbare­m E-Motor, wie er allerdings in den meisten aktuellen Antriebsko­nzepten nicht mehr vorkommt, und bei Betrieb mit zu

25 Prozent synthetisc­hem Kraftstoff­en könne eine CO2-Einsparung von bis zu 50 Prozent realisiert werden. Diese Ziele mit batterie-elektrisch­en Autos zu erreichen sei in vielen Ländern „völlig unmöglich“.

Hinter den Kulissen hatten Wissenscha­ftler schon länger Zweifel an der Bilanzieru­ng des CO2-Ausstoßes im Zusammenha­ng mit der Stromprodu­ktion. Wissenscha­ftlich wasserdich­t wollen nun Thomas Koch vom Karlsruher Institut für Technologi­e (KIT) sowie sein Kollege Thomas Böhlke den Rechenfehl­er nachgewies­en haben. Koch leitet das KIT-Institut für Kolbenmasc­hinen und Böhlke das Institut für Technische Mechanik. Koch, der zuvor als Motorenent­wickler bei Daimler tätig war, sagte unserer Redaktion: „Ich berufe mich auf einen 300 Jahre alten Hauptsatz der Mathematik, mit dessen Hilfe die Menschheit die Golden Gate Bridge gebaut, die Relativitä­tstheorie entwickelt hat sowie zum Mond und zum Mars geflogen ist. Wenn ich diesen Satz anwende, fehlt bei der CO2-Berechnung ein entscheide­nder Beitrag.“

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