Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Klimabilanz von E-Autos in der Kritik
Wissenschaftler appellieren an die EU-Kommission, Rechenfehler beim CO2-Fußabdruck zu vermeiden.
Der Weckruf der Wissenschaftler kommt, nur wenige Tage bevor die EU-Kommission neue
CO2-Flottengrenzwerte für Autos und Lieferwagen für das Jahr 2030 vorschlagen will. Der neue regulatorische Rahmen aus Brüssel soll bewirken, dass sich das E-Auto endgültig durchsetzt. Doch nun schlägt die Wissenschaft Alarm: Sie weist auf einen gravierenden Rechenfehler in den EU-Szenarien zur Betrachtung des CO2-Ausstoßes für die Strombereitstellung hin. Demnach sind die realen CO2-Emissionen des Sektors Elektrizität im Jahr
2030 zum Beispiel für Deutschland mehr als doppelt so hoch wie bislang angenommen. Die bisherige Betrachtungsweise, wonach das batterie-elektrische Auto am klimaschonendsten sei, gerät damit ins Wanken.
So führt die kritisierte Rechenmethode etwa dazu, dass VWs vollelektrischer ID 3 mit einem Normstrombedarf von 16,1 Kilowattstunden (kWh) pro 100 Kilometer bei einer Laufleistung von 224.000 Kilometern nach 16 Jahren insgesamt 14 Tonnen
CO2 verursacht. Dabei wird unterstellt, dass in diesem Zeitraum die Stromproduktion aus Sonne und Wind kräftig ausgebaut wird. Wenn der Rechenfehler beseitigt wird, sieht die CO2-Bilanz viel schlechter aus: Dann müsse bei gleicher Fahrleistung
mit dem Ausstoß von 30 Tonnen Kohlendioxid ausgegangen werden. Dabei sei noch nicht einmal der CO2-Ausstoß eingerechnet, der für Bau des Fahrzeugs, Betrieb bei winterlichen Temperaturen und für Schnellladeverluste anfalle.
Der mathematische Nachweis und die Analyse der bisherigen Rechenmethode wurden wissenschaftlich geprüft und haben das Prüfzertifikat für die Veröffentlichung in der renommierten Fachpublikation „Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik“bekommen. 171 ExpertenTechnischer Hochschulen aus der ganzen Welt unterstützen den Brief, der am
Sonntag bei der EU-Kommission einging und unserer Redaktion vorliegt. Mit dem Brief bekennen sie sich eindeutig zum „Green Deal“und der Notwendigkeit, den Ausstoß von CO2 im Verkehrssektor deutlich zu reduzieren. Alle Technologien wie das E-Auto, Brennstoffzelle und Hybrid würden dafür gebraucht. Jedoch weisen sie auf ihre „grundlegenden Bedenken“im Hinblick auf die Berechnung des CO2-Ausstoßes hin: Nach einer gründlichen Analyse von Positionspapieren, Gesetzgebungsentwürfen und wissenschaftlichen
„Ich berufe mich auf einen 300 Jahre alten Hauptsatz der Mathematik“
Publikationen sei man überzeugt, „dass die Ableitung der CO2-Emissionen im Sektor Elektrizität auf einer nicht hinreichenden Berechnungsmethode basiere“. In der Rechnung werde ein wichtiger Summand unterschlagen. „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis“, heißt es in dem Schreiben, „dass die realen CO2-Emissionen deutlich höher sein können als angenommen.“Und weiter heißt es: Der CO2-Ausstoß könne durchaus in der Summe um den Faktor zwei höher liegen als angenommen.
Die Experten schreiben weiter: „Die E-Auto-Technologie ist attraktiv – jedoch hängt das Potenzial vor allem vom Anwendungsfall ab.“Am erfolgversprechendsten sei aus ihrer Sicht, wenn
CO2-neutral hergestellte synthetische Kraftstoffe („Refuels“) in hocheffizienten Verbrennungsmotoren benutzt werden. Es wäre technisch problemlos möglich, einen Kraftstoff mit einem CO2-Minderungspotenzial von 25 Prozent zu definieren, der für den gesamten Pkw-Bestand bedenkenlos einsetzbar sei.
Die Wissenschaftler appellieren an die Kommission, ihre Erkenntnisse bei der anstehenden Regulierung im Blick zu haben: Ausgerechnet „die Antriebstechnologie von
Thomas Koch Forscher am Karlsruher Institut
für Technologie
Autos mit dem niedrigsten CO2-Ausstoß, nämlich Hybrid-Diesel, werde politisch und wirtschaftlich anscheinend komplett ausgebremst“. Bei einem Diesel-Pkw mit nur intern aufladbarem E-Motor, wie er allerdings in den meisten aktuellen Antriebskonzepten nicht mehr vorkommt, und bei Betrieb mit zu
25 Prozent synthetischem Kraftstoffen könne eine CO2-Einsparung von bis zu 50 Prozent realisiert werden. Diese Ziele mit batterie-elektrischen Autos zu erreichen sei in vielen Ländern „völlig unmöglich“.
Hinter den Kulissen hatten Wissenschaftler schon länger Zweifel an der Bilanzierung des CO2-Ausstoßes im Zusammenhang mit der Stromproduktion. Wissenschaftlich wasserdicht wollen nun Thomas Koch vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) sowie sein Kollege Thomas Böhlke den Rechenfehler nachgewiesen haben. Koch leitet das KIT-Institut für Kolbenmaschinen und Böhlke das Institut für Technische Mechanik. Koch, der zuvor als Motorenentwickler bei Daimler tätig war, sagte unserer Redaktion: „Ich berufe mich auf einen 300 Jahre alten Hauptsatz der Mathematik, mit dessen Hilfe die Menschheit die Golden Gate Bridge gebaut, die Relativitätstheorie entwickelt hat sowie zum Mond und zum Mars geflogen ist. Wenn ich diesen Satz anwende, fehlt bei der CO2-Berechnung ein entscheidender Beitrag.“