Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Archipel“schwächelt in der zweiten Hälfte
Die Großproduktion mit rund 50 Mitwirkenden feierte beim Festival „Theater der Welt“Uraufführung.
Aus der Dunkelheit des Raums taucht Sou Fujimotos zugleich filigrane und raumfüllende Bühnenkonstruktion als bergähnliche Erhebung auf einer Insel irgendwo im Nirgendwo auf. Hin und wieder erhellt ein Lichtblitz die Szenerie, untermalt von Urschreien. Nebel wabert über den Boden. Tänzer und Musiker in eng anliegenden weißen Bodysuits bespielen ihren „Berg“auf allen Ebenen, räkeln, schlängeln, klettern darauf herum und erkunden den Raum.
So könnte es vielleicht gewesen sein, als das Leben auf der Erde erwachte; und so könnte es aussehen, wenn von der Welt, wie wir sie heute kennen, nur noch Archipele übriggeblieben sind. Die Protagonisten sind eine Symbiose aus Menschen, Tieren und Pflanzen – Wesenheiten mit tentakelartigen Auswüchsen, mehreren Gliedmaßen mit archaisch anmutenden Geweihen auf dem Kopf. Einige wirken gar wie Roboter oder Androiden, denen Kabel und Drähte aus dem Körper wachsen.
Ein Solistenchor aus Norwegen, der coronabedingt nicht anreisen konnte, ist digital über zwei große Leinwände Teil des Stücks. Die Lösung dieses Problems wirkt so, als wäre sie von Anfang an so eingeplant gewesen und sei nur ein weiteres Stilmittel der genresprengenden Umsetzung.
Ursprünglich sollte die Großproduktion Teil der Ruhrtriennale im vergangenen Jahr sein. Da das nicht realisiert werden konnte, sprang das Festival Theater der Welt ein und brachte „Archipel“im Central auf die Bühne.
Die Performance verlangt dem Künstlerkollektiv – bestehend aus dem Ensemble Garage, dem
Asasello Quartett, dem Norske Solistkor und den Tänzern – einiges ab.
Etwa, wenn sie über 20 Minuten hinweg fast wie in Trance ihre Körper schütteln, hüpfen und sich dabei über ihre Stimmen noch anfeuern, bis an ihre Grenzen zu gehen. Choreografin Stephanie Thiersch setzt dabei auf ein Phänomen aus der Psychologie der Massen: Beginnen Individuen sich innerhalb einer Gruppe zu bewegen, gleichen sich die anderen mit der Zeit an. Sie greifen die Bewegung auf und verstärken damit die Dynamik bis zur Ekstase und schließlich Erschöpfung. Die tänzerische Umsetzung erinnert an die von Gabriele Roth entwickelten „Fünf Rhythmen“(Chaos, Stakkato, Flowing, Stillness und Lyric), die als universelles Energiemuster im steten Wechselspiel miteinander stehen, so wie sich die Mensch-Wesen mal als einzelne Individuen aus der Sicherheit des Archipels herauswagen, mal als Paar finden und kurze Allianzen mit anderen Mensch-Wesen eingehen, um schließlich ihre Vereinigung zu zelebrieren.
Für die musikalische Umsetzung zeichnet die Komponistin Britta Muntendorf verantwortlich. Sie lässt die Künstler und Künstlerinnen mit ihren Stimmen spielen, mal schreien, mal sirenenartig meditativ in einer Fantasiesprache auf- und abschwellende Klangcollagen formen. Die vom japanischen Architekten Sou Fujimoto entworfene Bühneninstallation wird dabei zum percussionalen Instrument. Medienkünstlerin und Choreografin Stephanie Thiersch hat „Archipel“als Stück in drei Akten angelegt, die fließend ineinander übergehen: Nach dem Erwachen der Mensch-Wesen folgt eine Phase der Transformation. Der Raum wird erkundet, Gleichgesinnte werden gefunden, bis schließlich in der letzten Phase das Leben in seiner Einzig- und Andersartigkeit gefeiert wird.
Leider gelingt es Thiersch und Muntendorf nicht, nach dem kraftvollen Beginn das Niveau bis zum Schluss zu halten. Der Prozess der Transformation wirkt zu lang und einfallslos, um den letzten Akt des Zelebrierens glaubwürdig auf eine weitere Ebene zu heben. Stattdessen wiederholen sich die tänzerisch-musikalischen Passagen immer wieder, und die befreiende Partystimmung am Ende gerät etwas zu glatt.