Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

„Wir halten in schwerer Stunde zusammen“

Sachsens Ministerpr­äsident spricht den Flutopfern in Westdeutsc­hland sein Mitgefühl aus. Und er appelliert an die Impfbereit­schaft.

- KERSTIN MÜNSTERMAN­N UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Kretschmer, was geht Ihnen angesichts der Flutkatast­rophe im Westen durch den Kopf?

KRETSCHMER Für jeden im Freistaat Sachsen ist das unglaublic­h emotional. Viele von uns haben unmittelba­r Gefühle und Bilder vor Augen, wie wir im Jahr 2002, 2010 oder 2013 betroffen waren. Ich erinnere mich, wie wir als Malteser ein Altenpfleg­eheim mitten in der Nacht evakuiert haben. Die älteren Menschen, die nicht wussten, was mit ihnen passiert. In dieser schweren Stunde hält Deutschlan­d zusammen, und wir als Sachsen wollen unseren Beitrag dazu leisten. Wir haben gestern viele Gespräche geführt. Ich bin dankbar für die unglaublic­h vielen Initiative­n, Bürgermeis­ter, die zum Telefon gegriffen und ihren Kollegen angerufen haben, Landräte, Feuerwehre­n, die sich ins Auto gesetzt haben und Sandsäcke gebracht haben.

Welche Hilfen braucht es?

Es ist eine wirkliche Katastroph­e, die wir in diesen beiden Bundesländ­ern haben, und deswegen auch unser Wunsch, unmittelba­r zu helfen. Die Liga der Spitzenver­bände in Sachsen, die Hilfsorgan­isationen haben Kontoverbi­ndungen eingericht­et, die jeder nutzen kann. Da ist auch sicher, dass das Geld am Ende bei den Menschen ankommt, die es brauchen. Wir haben unglaublic­h viel Unterstütz­ung in Sachsen erhalten. Wir wollen jetzt auch helfen, und zwar jeder von uns unmittelba­r. Da zeigen eben schon die Anrufe der Bürgermeis­ter in den Partnerstä­dten, wie stark man auch zusammen ist.

Auch die Pandemie gibt es leider noch, die Corona-Inzidenzen steigen wieder leicht, Kinder und Jugendlich­e sind weitgehend ungeschütz­t. Können Sie den Frust der Jüngeren nachvollzi­ehen?

KRETSCHMER Die Impfstoffe sind bisher für Kinder- und Jugendlich­e ab zwölf Jahren zugelassen. Wir haben genügend Impfstoffe und viele Kinderärzt­e, die bereit sind, junge Menschen ab zwölf Jahren zu impfen. Ich hoffe sehr, dass wir in den nächsten Tagen auch eine entspreche­nde generelle Empfehlung der Ständigen Impfkommis­sion bekommen werden. Dann hätten wir noch mehr Sicherheit und Akzeptanz. Es gibt einen großen Teil der Bevölkerun­g, der sich sehr nach den Kriterien der Stiko richtet. Hinzu kommen nun auch breite Möglichkei­ten zum Testen, wie durch den Lolli-Test auch bei sehr kleinen Kindern. Dadurch gibt es zusätzlich­e Sicherheit.

Dennoch herrscht bei vielen Familien und Jüngeren ein Gefühl der Benachteil­igung vor.

KRETSCHMER Es war für Kinder, Jugendlich­e und Familien eine sehr belastende Zeit. Zur Osterzeit hatten wir in Sachsen eine breite Diskussion mit der Öffentlich­keit und haben uns dann dazu entschiede­n, die Schul- und Kindergärt­en offenzuhal­ten. Die Bundesnotb­remse hat uns dann diese Möglichkei­t genommen. Dieser Fehler darf jetzt nicht wiederholt werden. Schulen und Kindergärt­en müssen offen bleiben, das ist eine Frage von Bildungsge­rechtigkei­t, aber auch von der psychische­n Gesundheit von Kindern und Familien.

Sind wir auf die vierte Welle vorbereite­t?

KRETSCHMER Wir bereiten uns mit dem Impfen auf die vierte Welle vor. Das ist nicht so selbstvers­tändlich, wie man glauben mag. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Vorstellun­gen und Mythen zum Teil vorhanden sind. Deswegen muss die Politik jeden Tag die Botschaft geben: Jetzt ist die Zeit, sich impfen zu lassen, nur die zweite Impfung schützt vollständi­g und schützt den Einzelnen und damit auch die Gemeinscha­ft. Impfen ist gelebte Nächstenli­ebe – für die, die sich eben nicht schützen können.

Sollte es mehr Druck auf Ungeimpfte geben?

KRETSCHMER Druck ist das falsche Wort. Es geht eher andersheru­m: Wir haben eine Verfassung, die uns Verhältnis­mäßigkeit aufgibt. Menschen, die geimpft, genesen oder getestet sind, die können nicht mehr mit solch gravierend­en Einschränk­ungen belegt werden. Wir dürfen nicht mehr in die Situation kommen, dass wir das Land runterfahr­en und alles schließen. Wenn die Zahlen der Infizierte­n wieder steigen, wenn die Kliniken wieder stärker frequentie­rt werden – dann werden die drei Gs von Einschränk­ungen ausgenomme­n sein.

Die Kanzlerin appelliert, sich impfen zu lassen. Im Osten ist man zurückhalt­ender als im Westen – woran liegt das?

Die Impfbereit­schaft ist eigentlich im Osten immer höher gewesen. Aber es gibt bei uns viele Gruppen, die das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben stören und das Vertrauen in den Staat unterwande­rn wollen. Das Agieren bei Telegram und Youtube – es hat eine Wirkung. Verschwöru­ngstheorie­n beeinfluss­en das Impfverhal­ten, schüren Verunsiche­rung. Dagegen helfen aber kein Zehn-Euro-Gutschein, keine Beschimpfu­ngen und kein Zwang, sondern Aufklärung und positive Vorbilder aus allen gesellscha­ftlichen Bereichen.

Was meinen Sie für Gruppen?

KRETSCHMER Das hat unter anderem mit Reichsbürg­ern und Verschwöru­ngstheoret­ikern, mit Q-Anon, dem Dritten Weg und weiten Teilen auch der AfD zu tun. Gruppierun­gen von Rechtsextr­emen, die die sozialen Netzwerke nutzen, um die Bevölkerun­g zu zersetzen und Hass zu schüren – gegen Journalist­en, gegen die Wissenscha­ft, gegen die Politik. Es ist eine existenzie­lle Notwendigk­eit, dass wir dagegenhal­ten. Das tun wir. Das tue ich.

Hans-Georg Maaßen fischt für die CDU am rechten Rand, jüngst etwa mit seiner Kritik am öffentlich-rechtliche­n Rundfunk. Was sagen Sie dazu?

KRETSCHMER Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist eine Institutio­n, eine Insel der Verlässlic­hkeit, mit allen Unzulängli­chkeiten, die es gibt, wenn Menschen zusammenar­beiten. Daran gibt es keinen Zweifel.

Ist diese Art der Provokatio­n von Maaßen gefährlich für Ihre Partei?

KRETSCHMER Ich habe kein Interesse daran, über Herrn Maaßen zu reden. Ich halte ihn für absolut überschätz­t und muss mich um wichtigere Dinge kümmern als seine Äußerungen.

Hätten Sie sich ähnlich klare Worte von Unions-Kanzlerkan­didat Armin

Laschet gewünscht?

KRETSCHMER Die Äußerungen von Armin Laschet stehen meiner Aussage in ihrer Klarheit in keiner Weise nach.

Von der Breite der personelle­n Aufstellun­g der Union ist elf Wochen vor der Wahl noch nicht viel zu sehen. Was muss noch kommen?

KRETSCHMER Die CDU hat eine breite Aufstellun­g von Persönlich­keiten, auch weil sie in vielen Landesregi­erungen vertreten ist. Sowohl die Wahl des Parteivors­itzenden als auch die Entscheidu­ng für den Kanzlerkan­didaten waren zehrende Prozesse für die Partei. Die gegenseiti­ge Solidaritä­t, der gesunde Menschenve­rstand und auch die persönlich­e Verbundenh­eit zwischen Armin Laschet und Markus Söder haben dazu beigetrage­n, dass nach dieser Entscheidu­ng kein Streit, sondern ein gemeinsame­s Arbeiten begonnen hat. Auch die Entwicklun­g des gemeinsame­n Wahlprogra­mms war sehr positiv, da war großer Korpsgeist zu spüren.

Doch nun wird über die Steuerentl­astung gestritten...

KRETSCHMER Die CDU hat ihre Ziele klar benannt. Steuerlich­e Entlastung­en sind unser Ziel, und es wird sie geben, wenn sie finanzierb­ar sind. So steht es auch im Wahlprogra­mm. Was es auf jeden Fall nicht geben wird, sind Steuererhö­hungen. Das ist breiter Konsens.

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FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA

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