Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
„Wir halten in schwerer Stunde zusammen“
Sachsens Ministerpräsident spricht den Flutopfern in Westdeutschland sein Mitgefühl aus. Und er appelliert an die Impfbereitschaft.
Herr Kretschmer, was geht Ihnen angesichts der Flutkatastrophe im Westen durch den Kopf?
KRETSCHMER Für jeden im Freistaat Sachsen ist das unglaublich emotional. Viele von uns haben unmittelbar Gefühle und Bilder vor Augen, wie wir im Jahr 2002, 2010 oder 2013 betroffen waren. Ich erinnere mich, wie wir als Malteser ein Altenpflegeheim mitten in der Nacht evakuiert haben. Die älteren Menschen, die nicht wussten, was mit ihnen passiert. In dieser schweren Stunde hält Deutschland zusammen, und wir als Sachsen wollen unseren Beitrag dazu leisten. Wir haben gestern viele Gespräche geführt. Ich bin dankbar für die unglaublich vielen Initiativen, Bürgermeister, die zum Telefon gegriffen und ihren Kollegen angerufen haben, Landräte, Feuerwehren, die sich ins Auto gesetzt haben und Sandsäcke gebracht haben.
Welche Hilfen braucht es?
Es ist eine wirkliche Katastrophe, die wir in diesen beiden Bundesländern haben, und deswegen auch unser Wunsch, unmittelbar zu helfen. Die Liga der Spitzenverbände in Sachsen, die Hilfsorganisationen haben Kontoverbindungen eingerichtet, die jeder nutzen kann. Da ist auch sicher, dass das Geld am Ende bei den Menschen ankommt, die es brauchen. Wir haben unglaublich viel Unterstützung in Sachsen erhalten. Wir wollen jetzt auch helfen, und zwar jeder von uns unmittelbar. Da zeigen eben schon die Anrufe der Bürgermeister in den Partnerstädten, wie stark man auch zusammen ist.
Auch die Pandemie gibt es leider noch, die Corona-Inzidenzen steigen wieder leicht, Kinder und Jugendliche sind weitgehend ungeschützt. Können Sie den Frust der Jüngeren nachvollziehen?
KRETSCHMER Die Impfstoffe sind bisher für Kinder- und Jugendliche ab zwölf Jahren zugelassen. Wir haben genügend Impfstoffe und viele Kinderärzte, die bereit sind, junge Menschen ab zwölf Jahren zu impfen. Ich hoffe sehr, dass wir in den nächsten Tagen auch eine entsprechende generelle Empfehlung der Ständigen Impfkommission bekommen werden. Dann hätten wir noch mehr Sicherheit und Akzeptanz. Es gibt einen großen Teil der Bevölkerung, der sich sehr nach den Kriterien der Stiko richtet. Hinzu kommen nun auch breite Möglichkeiten zum Testen, wie durch den Lolli-Test auch bei sehr kleinen Kindern. Dadurch gibt es zusätzliche Sicherheit.
Dennoch herrscht bei vielen Familien und Jüngeren ein Gefühl der Benachteiligung vor.
KRETSCHMER Es war für Kinder, Jugendliche und Familien eine sehr belastende Zeit. Zur Osterzeit hatten wir in Sachsen eine breite Diskussion mit der Öffentlichkeit und haben uns dann dazu entschieden, die Schul- und Kindergärten offenzuhalten. Die Bundesnotbremse hat uns dann diese Möglichkeit genommen. Dieser Fehler darf jetzt nicht wiederholt werden. Schulen und Kindergärten müssen offen bleiben, das ist eine Frage von Bildungsgerechtigkeit, aber auch von der psychischen Gesundheit von Kindern und Familien.
Sind wir auf die vierte Welle vorbereitet?
KRETSCHMER Wir bereiten uns mit dem Impfen auf die vierte Welle vor. Das ist nicht so selbstverständlich, wie man glauben mag. Ich bin immer wieder erstaunt, welche Vorstellungen und Mythen zum Teil vorhanden sind. Deswegen muss die Politik jeden Tag die Botschaft geben: Jetzt ist die Zeit, sich impfen zu lassen, nur die zweite Impfung schützt vollständig und schützt den Einzelnen und damit auch die Gemeinschaft. Impfen ist gelebte Nächstenliebe – für die, die sich eben nicht schützen können.
Sollte es mehr Druck auf Ungeimpfte geben?
KRETSCHMER Druck ist das falsche Wort. Es geht eher andersherum: Wir haben eine Verfassung, die uns Verhältnismäßigkeit aufgibt. Menschen, die geimpft, genesen oder getestet sind, die können nicht mehr mit solch gravierenden Einschränkungen belegt werden. Wir dürfen nicht mehr in die Situation kommen, dass wir das Land runterfahren und alles schließen. Wenn die Zahlen der Infizierten wieder steigen, wenn die Kliniken wieder stärker frequentiert werden – dann werden die drei Gs von Einschränkungen ausgenommen sein.
Die Kanzlerin appelliert, sich impfen zu lassen. Im Osten ist man zurückhaltender als im Westen – woran liegt das?
Die Impfbereitschaft ist eigentlich im Osten immer höher gewesen. Aber es gibt bei uns viele Gruppen, die das gesellschaftliche Zusammenleben stören und das Vertrauen in den Staat unterwandern wollen. Das Agieren bei Telegram und Youtube – es hat eine Wirkung. Verschwörungstheorien beeinflussen das Impfverhalten, schüren Verunsicherung. Dagegen helfen aber kein Zehn-Euro-Gutschein, keine Beschimpfungen und kein Zwang, sondern Aufklärung und positive Vorbilder aus allen gesellschaftlichen Bereichen.
Was meinen Sie für Gruppen?
KRETSCHMER Das hat unter anderem mit Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern, mit Q-Anon, dem Dritten Weg und weiten Teilen auch der AfD zu tun. Gruppierungen von Rechtsextremen, die die sozialen Netzwerke nutzen, um die Bevölkerung zu zersetzen und Hass zu schüren – gegen Journalisten, gegen die Wissenschaft, gegen die Politik. Es ist eine existenzielle Notwendigkeit, dass wir dagegenhalten. Das tun wir. Das tue ich.
Hans-Georg Maaßen fischt für die CDU am rechten Rand, jüngst etwa mit seiner Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Was sagen Sie dazu?
KRETSCHMER Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist eine Institution, eine Insel der Verlässlichkeit, mit allen Unzulänglichkeiten, die es gibt, wenn Menschen zusammenarbeiten. Daran gibt es keinen Zweifel.
Ist diese Art der Provokation von Maaßen gefährlich für Ihre Partei?
KRETSCHMER Ich habe kein Interesse daran, über Herrn Maaßen zu reden. Ich halte ihn für absolut überschätzt und muss mich um wichtigere Dinge kümmern als seine Äußerungen.
Hätten Sie sich ähnlich klare Worte von Unions-Kanzlerkandidat Armin
Laschet gewünscht?
KRETSCHMER Die Äußerungen von Armin Laschet stehen meiner Aussage in ihrer Klarheit in keiner Weise nach.
Von der Breite der personellen Aufstellung der Union ist elf Wochen vor der Wahl noch nicht viel zu sehen. Was muss noch kommen?
KRETSCHMER Die CDU hat eine breite Aufstellung von Persönlichkeiten, auch weil sie in vielen Landesregierungen vertreten ist. Sowohl die Wahl des Parteivorsitzenden als auch die Entscheidung für den Kanzlerkandidaten waren zehrende Prozesse für die Partei. Die gegenseitige Solidarität, der gesunde Menschenverstand und auch die persönliche Verbundenheit zwischen Armin Laschet und Markus Söder haben dazu beigetragen, dass nach dieser Entscheidung kein Streit, sondern ein gemeinsames Arbeiten begonnen hat. Auch die Entwicklung des gemeinsamen Wahlprogramms war sehr positiv, da war großer Korpsgeist zu spüren.
Doch nun wird über die Steuerentlastung gestritten...
KRETSCHMER Die CDU hat ihre Ziele klar benannt. Steuerliche Entlastungen sind unser Ziel, und es wird sie geben, wenn sie finanzierbar sind. So steht es auch im Wahlprogramm. Was es auf jeden Fall nicht geben wird, sind Steuererhöhungen. Das ist breiter Konsens.