Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
So weit die Räder tragen
Jannik Jürgens (31) ist 310 Kilometer in 17 Stunden durch den Schwarzwald gefahren. Die Extrem-Tour mit dem Fahrrad über 4500 Höhenmeter nennt sich „Brevet“– eine Grenzerfahrung. Dies ist sein Bericht.
Mein Rad rauscht im Morgengrauen über die Landstraße. Auf den Feldern liegt feuchter Nebel. Die Kälte kriecht in meine Handschuhe, meine Zehen sind taub. Ich atme tief ein und konzentriere mich auf den Tritt. Drücken und ziehen, drücken und ziehen. Immer weiter.
Vor mir faltet sich der Kaiserstuhl auf, ein von Weinreben gesäumtes Vulkangebirge, hinter mir liegt Freiburg. Mein Magen: flau. Mein Kopf: voller Zweifel. Das Abenteuer, auf das ich mich an diesem Frühjahrsmorgen eingelassen habe, erscheint mir ziemlich verrückt. Ich möchte
310 Kilometer Radfahren innerhalb von 20 Stunden.
Meine Tour, ein sogenanntes Brevet, führt kreuz und quer durch den Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald. Steile Berge hinauf und enge Täler hinunter. Es kommt nicht darauf an, Erster zu sein. Allein das Ankommen innerhalb des Zeitlimits zählt. Und: Ich muss es aus eigener Kraft schaffen, darf bei einer Panne keine Hilfe annehmen.
Ich habe so etwas noch nie gemacht.
Nun ja, ich bin kein Anfänger – im vergangenen Jahr bin ich etwa
4000 Kilometer gefahren. Ich liebe das Radfahren. Mit dem Rennrad stand ich zweimal auf dem Mont Ventoux, auf einem schwer bepackten Mountainbike bin ich durch Argentinien, Chile und Bolivien gefahren. Aber heute muss ich
4500 Höhenmeter an einem Tag überwinden – ein Anstieg wie vom Meeresspiegel auf die höchsten Gipfel der Alpen. Halte ich das durch?
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages kitzeln meinen Rücken. Die Straße ist leer. Ich klettere einen Hügel hinauf, und langsam kehrt das Gefühl in meine Zehen zurück. Mit jedem Tritt wird die Angst, dass ich es nicht schaffen könnte, etwas kleiner. Auf der Abfahrt spüre ich noch die Kälte der Nacht, doch es wird bald wärmer werden. Ich fahre durch Oberbergen, ein verschlafenes Dorf mit engen Gassen und schiefen Häusern. Auf den Kuppen der Vogesen funkelt der Schnee.
Organisiert wird das Brevet von den „Verwegenen Radfahrern aus dem Breisgau“. So könnte man den Vereinsnamen „Audax Randonneurs Allemagne Breisgau“übersetzen. Sie organisieren jedes Frühjahr mehrere solcher Kilometerprüfungen –
300, 400 oder 600 Kilometer lang. Nach 28 Kilometern erreiche ich den ersten Kontrollpunkt. Normalerweise haben Brevet-Fahrer eine Karte dabei, auf der sie Stempel sammeln. Doch heute erwartet mich am Stadttor von Burkheim, einem Dorf im westlichen Zipfel des Breisgaus, kein Stempel, keine Aufmunterung, nicht mal ein Mensch. Wegen der Pandemie läuft alles kontaktlos über eine Internetseite. Ich fische mein Smartphone aus der Lenkertasche, logge meinen Standort ein und lade ein Foto meines Fahrrads hoch. Es klappt tadellos.
Auf einer schnurgeraden Nebenstraße fahre ich nach Breisach. Obstbäume blühen, Frankreich liegt nur ein Hahnenkrähen entfernt. Die Versuchung ist groß, einen schweren Gang einzulegen und Tempo zu machen. Doch mehr als 250 Kilometer liegen noch vor mir.
Plötzlich fliegt ein neongelber Blitz an mir vorbei, tief auf einen Triathlonlenker gebeugt. Ich versuche dranzubleiben, doch nach wenigen Metern gebe ich auf. Denn ich habe ganz andere Probleme: Ich spüre, dass ich beim Frühstück zu viel Kaffee getrunken habe. Alle zehn Kilometer muss ich eine Pause machen, um zu pinkeln. Außerdem scheuert die Radhose an der Innenseite meines Oberschenkels. Und mir ist schlecht. Viel essen soll man, weil der Körper Unmengen an Kalorien verbraucht. Deswegen habe ich in zwei Stunden vier Energieriegel vertilgt. Nun ist mein Magen überfordert. Ich bremse, lehne mein Rad an einen Baum und setze mich ins Gras.
Mit der Übelkeit kommen die Zweifel zurück: Warum mache ich das hier eigentlich? Was will ich mir beweisen?
Ich liebe das Radfahren, weil es das ideale Fortbewegungsmittel ist, um die Welt zu erkunden. Auf dem Fahrrad trennt mich kein Metallpanzer von der Sonne, dem Regen und den Menschen, die am Straßenrand stehen. Ich halte gerne an, rede mit ihnen und lasse mich treiben. Durchschnittsgeschwindigkeiten sind mir eigentlich völlig schnuppe.
Das Brevet hat mich verändert, das habe ich schon bei der Vorbereitung gemerkt. Auf einmal saß ich nachts vor meinem Laptop und verglich den Rollwiderstand von Rennradreifen. Ich habe über meine Sitzposition nachgedacht, wollte zu einem professionellen Bikefitter gehen. Ich habe versucht, weniger Kohlenhydrate zu essen, um Gewicht zu verlieren. Den Februar und den März verbrachte ich mit Trainingsfahrten. Ich habe mir sogar einen Radcomputer gekauft!
Ich fühle mich wie ein Verräter. Training, Ernährung, Optimierung: ein Wahn, der mir zuwider ist. Zur Radreise durch Südamerika bin ich aufgebrochen, weil ich eine Auszeit vom durchgetakteten Studium brauchte. Ich wollte leben. Auf dem Fahrrad habe ich mich unsterblich verliebt. Und ich war unfassbar frei.
Während mich diese Gedanken betäuben, fährt ein kleiner Mann auf einem roten Fahrrad an mir vorbei. Er grüßt freundlich. Ich schnappe mein Rad und fahre hinterher.
Gerald ist 61 Jahre alt und hat schon auf der ganzen Welt Brevets absolviert. Er freut sich über die guten Radwege, den blauen Himmel und holt mich in die Realität. Er sagt: „Es ist alles Kopfsache. Wenn du dich auf 300 Kilometer einstellst, kannst du 300 Kilometer fahren. Wenn du 400 Kilometer fahren willst, kannst du auch 400 fahren.“Ich bin froh, dass ich ihn gefunden habe.
Auch Gerald freut sich über die Begleitung. Er redet gerne. Über Cyclocross-Rennen im Matsch und Paris-Brest-Paris, die Königin unter den Brevets, 1200 Kilometer lang und ultraschwer. „Da legen sich die Leute zwischendurch zum Schlafen in den Straßengraben“, sagt er. Viele geben auf. Gerald hat es geschafft.
Warum quälst du dich so gerne, Gerald? Er guckt mich an. Dann sagt er: „Es gibt immer harte Momente. Wenn die Schultern schmerzen oder der Körper die Spannung verliert. Aber das ist für mich noch keine Quälerei.“Mir gefällt das. Vielleicht werde ich mich heute gar nicht quälen müssen – sondern bloß anstrengen. Ein Unterschied, den Menschen, die bevorzugt auf dem Sofa sitzen, nicht unbedingt kennen.
Mittlerweile ist es Mittag. Die ersten 100 Kilometer liegen hinter mir – und der Stohren steht an. Spätestens hier wird es mir die Schuhe ausziehen, dachte ich vorher. Die Straße wuchtet sich in Serpentinen den Berg hinauf, ein Schild warnt: 18 Prozent. Gerald, der eben noch vom Stilfserjoch in den italienischen Alpen geschwärmt hat, verstummt. Ich schalte in den kleinsten Gang und versuche, so langsam wie möglich zu treten.
Mein Herz rast, Schweiß rinnt von meiner Stirn, ich krieche über den Asphalt. Wenn ich langsamer fahren würde, fiele ich um. Doch meine Beine fühlen sich gar nicht so schlecht an, und die Scheuerstelle ist vergessen. Nach einer kurzen Abfahrt sind wir zurück auf der Hauptstraße, die sich unbarmherzig steil in die Höhe schraubt. An den Innenseiten der Kurven liegt die Steigung bei mehr als 20 Prozent. Zum Glück spenden einige mächtige Tannen kühlen Schatten. Drei Kilometer vor dem Gipfel endet der Wald, und die Sonne brennt in meinem Nacken. Doch die Steigung flacht ab, und der Ausblick in die Rheinebene ist grandios. Auf der Passhöhe bleibt mein Blick kurz am Feldberg haften, dann rumple ich auf einer frostzerfressenen Straße hinunter nach Hofsgrund. An der Kirche warte ich auf Gerald. Wir füllen unsere Wasserflaschen und stürzen uns in die Abfahrt.
Es geht weiter, auf und ab, manchmal sind die Anstiege so steil, dass mir die Luft wegbleibt, doch ich bin euphorisch. Ich könnte ewig weiterfahren. Auf einer Staumauer kommt uns der neongelbe Triathlet entgegen, der mich am Morgen überholt hat. Ich frage, wie es ihm geht. Er brüllt: „Was für ein Scheißweg!“Gerald, der sich mal in der Triathlon-Szene umgesehen hat, sagt: „Bei denen ist Lachen verboten.“Wir prusten los.
Mit dem Scheißweg meint er eine Sandpiste, die durch ein Waldstück den Berg hinabführt. Mein Hinterrad schießt einen Stein gegen einen Baum, beim Bremsen staubt der Sand. Ich schreie vor Glück.
In Friedenweiler biegen wir auf unsere letzte Schleife ein und bewundern wenig später den Sonnenuntergang. In Unadingen ist es stockdunkel. Ein paar Hundert Meter vor uns fahren drei rote Lichter. Ihr Anblick beruhigt mich. Es sind Randonneure – Langstreckenfahrer – auf dem Heimweg, genau wie wir, und ich habe keinen Zweifel mehr, dass ich das Brevet zu Ende fahren werde.
Die letzten Kilometer ziehen sich. Geralds Tretlager knarzt, die Temperatur fällt auf null, der Leuchtkegel unserer Lampen macht die Straße zum Tunnel. Um fünf vor zwölf sind wir am Ziel in Freiburg. Ich habe es tatsächlich geschafft. 310 Kilometer in gut 17 Stunden. Doch ich bin so müde und mein Körper ist so leer, dass ich mich gar nicht freuen kann. Gerald sagt: „War schön. Ich muss ins Bett.“Dann ist er weg.
Ich stehe vor dem Wiehre-Bahnhof und zittere vor Kälte. In mir: nichts außer Gleichgültigkeit. Ziemlich sinnlos, so eine Fahrt quer durch den Landkreis, von Freiburg nach Freiburg. Warum habe ich das nun gemacht? In diesem Moment kann ich es beim besten Willen nicht erklären. Ein paar Tage später habe ich den tieferen Sinn des Brevet-Fahrens immer noch nicht entdeckt. Vielleicht gibt es ihn nicht. Aber mittlerweile bin ich mir sicher: Ich werde es noch mal machen.