Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Johnsons libertäre Instinkte
An diesem Montag wird in England der „Tag der Freiheit“gefeiert, an dem alle Restriktionen wegfallen. Doch darüber, wie es angesichts explodierender Infektionszahlen coronagerecht weitergeht, scheiden sich die Geister. Ein Lehrstück für Kontinentaleuropa.
Boris Johnson wurde einmal gefragt, welche Filmfigur er am meisten bewundere. Das sei Larry Vaughn aus dem Film „Der Weiße Hai“, antwortete er. Vaughn ist der Bürgermeister des Badeorts Amity, der um der Wirtschaft willen die Strände offenhält, obwohl ein Riesenhai beginnt, die Badegäste aufzufressen. „Okay, in diesem Fall lag er falsch“, sagte Johnson, „aber im Prinzip brauchen wir mehr solche Politiker.“
An diesem Montag darf der britische Premierminister in die Rolle seines Filmhelden schlüpfen: Obwohl die dritte Corona-Welle in England immer mehr an Fahrt gewinnt, werden an diesem Tag alle gesetzlichen Beschränkungen des öffentlichen Lebens wegfallen – „Tag der Freiheit“wird er genannt.
Das heißt: keine zentral verordneten Abstandsregeln mehr in Restaurants oder Pubs, in Theatern oder Kinos. Keine Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr oder in den Supermärkten. Die staatliche Verordnung, von zu Hause zu arbeiten, gilt nicht mehr. Nachtclubs und Diskotheken dürfen wieder öffnen, und Massenbeschränkungen bei Großveranstaltungen soll es auch nicht mehr geben. Die Boulevardpresse jubelt ebenso über den „Freedom Day“wie der rechte Flügel in der konservativen Regierungspartei.
Die Bevölkerung dagegen ist skeptisch. Gut zwei Drittel der Briten, so eine kürzliche Umfrage von Ipsos Mori, hätten gerne die Beschränkungen für einen weiteren Monat beibehalten. Denn die dritte Corona-Welle gewinnt immer mehr an Schwung. Am Samstag zählte man 54.674 Neuinfektionen, so viele gab es zuletzt Mitte Januar. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen steigt – ebenso die der Toten. Am Freitag wurde ausgerechnet der Gesundheitsminister Sajid Javid positiv getestet. Als enge Kontaktleute müssen sich jetzt Premierminister Johnson und Schatzkanzler Rishi Sunak in Isolation begeben und sich täglichen Tests unterziehen.
Dennoch will die Regierung an ihren Plänen festhalten, obwohl es immer mehr wie ein Vabanque-Spiel aussieht, sämtliche Einschränkungen zu lockern, was naturgemäß die Ansteckungen befeuern wird. Selbst Sajid Javid hatte zugeben müssen, dass die Infektionszahlen bald die Marke von 100.000 täglich erreichen könnten. Sein und Johnsons Argument lautet, dass man lernen müsse, „mit dem Virus zu leben“. Zudem habe man eine „Mauer des Impfschutzes“aufgebaut. Tatsächlich hat die Regierung ihr Ziel erreicht, sämtlichen Erwachsenen des Königreichs eine erste Impfung anbieten zu können. Mittlerweile sind etwas mehr als zwei Drittel der Briten doppelt immunisiert. Doch die Altersgruppe unter 18 Jahre, immerhin gut 20 Millionen Personen, hat noch keinen Impfschutz.
Ein Gedanke drängt sich daher auf: Man hätte durchaus noch einen oder vielleicht zwei Monate warten können, bevor man alles wieder aufmacht. In dieser Zeit könnten sämtliche Erwachsenen mit einer doppelten Impfung versorgt werden. Und man hätte beginnen können, auch die Jüngeren zu immunisieren. Doch Johnson ist ein Getriebener. Seine libertären Instinkte drängen ihn, den Briten die Freiheit wiederzugeben, selbst wenn die meisten das gar nicht wollen. Abgesehen davon sitzt ihm der rechte Flügel seiner eigenen Fraktion im Nacken, der ihm einen Rückzieher nicht verzeihen würde. Also setzt der Premierminister auf seine Fortune und vertraut darauf, dass es wohl nicht so schlimm kommen wird. Die Schulferien beginnen, viele Menschen arbeiten weiter aus dem Homeoffice, die Temperaturen steigen, und viele Aktivitäten werden ins Freie verlegt: All das soll helfen, die zu erwartende Infektionswelle abzuschwächen.
Es will ja kein Minister in den Mund nehmen und Boris Johnson schon gar nicht, aber die Corona-Strategie der Regierung läuft darauf hinaus, eine Herdenimmunität in Großbritannien anzusteuern, indem man die Erwachsenen impft und die jüngeren Altersgruppen sich infizieren lässt. In einem offenen Brief an das angesehene Fachjournal „The Lancet“verurteilten mehr als 1200 Wissenschaftler die Strategie „Herdenimmunität durch
Masseninfektion“als „unwissenschaftlich und unethisch“.
Ernste Fragen werden darin aufgeworfen: Ist es das Interesse der Wirtschaft wert, dass eine hohe Zahl von Menschen erkrankt? Dass auch Jüngere an Long Covid, also an monatelangen Folgeschäden leiden werden? Und die katastrophalste Konsequenz wäre ja, dass sich aufgrund der rapide steigenden Infektionszahlen eine neue, impfresistente Mutante entwickeln könnte. In diesem Fall würde die britische Lockerung zu einer „Bedrohung für die Welt“, wie eine Online-Konferenz globaler Gesundheitsexperten befand. Boris Johnson geht ein Hasardspiel ein. Und ähnlich wie der Bürgermeister von Amity könnte er damit völlig falsch liegen.