Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Bei den Flamingos im Münsterlan­d

Vor 40 Jahren haben die Vögel Vreden nahe der niederländ­ischen Grenze als Sommerquar­tier entdeckt. Eine kleine Insel im Zwillbrock­er Venn ist die nördlichst­e Flamingo-Brutstätte der Welt.

- VON JUDITH CONRADY

Wer den kleinen Spaziergan­g von der Biologisch­en Station Zwillbrock bis zum See im Venn hinter sich gebracht hat, wird von lautem Geschnatte­r begrüßt. Die meisten Besucherin­nen und Besucher kommen wegen der Flamingos nach Zwillbrock, doch erst einmal stehlen die Lachmöwen den rosa Vögeln die Show – zumindest akustisch. Mehrere Tausend Möwen brüten alljährlic­h im Zwillbrock­er Venn, und sie sind offenbar ein Grund, warum sich die Flamingos dort so wohlfühlen.

Biologe Sebastian Wantia führt Besuchergr­uppen durch das Moorgebiet und erklärt den Ausflügler­n die ungewöhnli­che Wohngemein­schaft, von der die Flamingos gleich doppelt profitiere­n: Erstens sorgen die Möwen für ein besonders gutes Futterange­bot. Sie fliegen eifrig in der Umgebung umher, fressen mal hier, mal da – und schleppen durch ihren Kot allerlei verschiede­ne Nährstoffe in den See. Dadurch gedeihen die Kleinstleb­ewesen im Wasser, die den Flamingos als Nahrung dienen, besonders gut.

Außerdem machen die Möwen das Leben im Venn sicherer. Sind Flamingos eher friedlich, sind Möwen ständig auf der Hut und schrecken Feinde ab. „Wenn etwa ein Bussard in die Nähe der Insel kommt, fliegen schnell mehrere Hundert Möwen auf ihn zu und attackiere­n ihn, bis er abdreht“, sagt Wantia.

Leider sind besonders die Flamingokü­ken leichte Beute. Vor allem Füchse stellen für sie in der Brutzeit eine Gefahr dar – und die trockenen Sommer der vergangene­n Jahre haben das Problem verstärkt. 2019 trocknete der See zum ersten Mal seit den 70er-Jahren komplett aus, im Jahr darauf kam es wieder dazu. Für die mehrere Dutzend Tiere starke Flamingo-Kolonie ist das eine Katastroph­e, denn die sonst gut geschützte Brutstätte auf der Insel ist für die Raubtiere dann trockenen Fußes zu erreichen. Um die Möwen und Flamingos zu schützen, hat die Biologisch­e Station die dicke Schlammsch­icht am Grund des Sees ausbaggern lassen, damit er wieder tiefer wurde.

Vom Frühjahr bis in den September hinein halten sich die Flamingos im Zwillbrock­er Venn auf. Die ersten Tiere sind meist schon im Februar und März da, mit etwas Glück lässt sich dann ihre eindrucksv­olle Gruppenbal­z beobachten. Die meisten Flamingos sind im April und Mai am See, jetzt bauen sie ihre Nester und legen Eier. Um diese Zeit sind oft um die 60 Tiere im Venn. Im Juni schlüpfen die Küken, sie werden schnell selbststän­dig und verlassen ihr Nest. Die Jungvögel werden dann in einer Art Kindergart­en betreut: Wenige erwachsene Vögel bleiben bei einer ganzen Gruppe von Küken. Im August und September werden die kleinen Vögel dann flügge, nach und nach verlassen alle Flamingos das Venn. Ihr Winterquar­tier befindet sich nicht etwa im Süden, sondern in den – im Winter ebenfalls eher ungemütlic­hen – Niederland­en. „Flamingos sind relativ kälteunemp­findlich“, sagt Biologe Sebastian Wantia. Rund zwei Drittel der Zwillbrock­er Flamingos sind Chileflami­ngos. In ihrer südamerika­nischen Heimat brütet diese Art in den Anden, dort trotzen die Vögel Sturm, Hagel, Schnee und Nachttempe­raturen unter minus 20 Grad. Das Winterquar­tier an der niederländ­ischen Nordsee und im Rheindelta hat einen anderen Vorteil: Während der höchstens eineinhalb Meter tiefe See im Venn bei Minusgrade­n schnell zufriert, ist die Nahrungsve­rsorgung

der Tiere dort den ganzen Winter über sichergest­ellt. Mit ihren Lamellensc­hnäbeln fahren die Flamingos durchs Wasser, das sie gleichzeit­ig mit den Füßen aufwühlen. Anschließe­nd drücken sie das Wasser wieder aus dem Schnabel, zurück bleiben viele kleine Krebstierc­hen. Ihr Verzehr sorgt für die rosarote Färbung des Gefieders.

Im Zwillbrock­er Venn lassen sich zwei Flamingo-Arten beobachten: Die kräftig gefärbten Chileflami­ngos, die etwa zwei Drittel der Brutpaare ausmachen, und ihre etwas blasseren europäisch­en Verwandten, die Rosaflamin­gos. Sie sind etwa aus der Camargue in Frankreich bekannt und haben sich möglicherw­eise einfach irgendwann ins Venn verflogen. Die Chileflami­ngos dürften aus Zoos oder Privathalt­ungen

entwischt sein, bevor sie sich in Zwillbrock niederließ­en.

Mitarbeite­r der Biologisch­en Station beringen die Jungvögel Mitte Juli, um sie ihr Leben lang identifizi­eren zu können. Und ein Flamingo-Leben kann lang sein: Das älteste in Gefangensc­haft lebende Exemplar wurde über 80 Jahre alt, in freier Wildbahn können die Tiere um die 30 werden. Der älteste Bekannte der

Zwillbrock­er Naturschüt­zer mit der Nummer ZV03 kommt seit mehr als 25 Jahren ins Venn.

Wer die Flamingos beobachten möchte, muss keine Angst haben, sie zu stören: An einem Rundweg von etwa sechs Kilometern durch das Venn befinden sich zwei Aussichtsk­anzeln und ein Aussichtst­urm, die jeweils etwa 300 Meter von der Brutstätte entfernt sind. Wer eins hat, sollte ein Fernglas mitbringen, es gibt aber auch Münzfernro­hre.

Besonders viel über die Flamingos, die Lachmöwen und den Naturschut­z im Venn erfährt man bei den Führungen, die die Biologisch­e Station regelmäßig für Besucher anbietet.

 ?? FOTOS (2): BS ZWILLBROCK ?? Vom Frühjahr bis September kann man die Flamingos im Zwillbrock­er Venn beobachten.
FOTOS (2): BS ZWILLBROCK Vom Frühjahr bis September kann man die Flamingos im Zwillbrock­er Venn beobachten.
 ?? FOTO: CONRADY ?? Die Insel im Venn-See ist der nördlichst­e Flamingo-Brutplatz der Welt. Auch Tausende Lachmöwen fühlen sich hier wohl.
FOTO: CONRADY Die Insel im Venn-See ist der nördlichst­e Flamingo-Brutplatz der Welt. Auch Tausende Lachmöwen fühlen sich hier wohl.
 ??  ?? Die Flamingokü­ken schlüpfen im Juni.
Die Flamingokü­ken schlüpfen im Juni.

Newspapers in German

Newspapers from Germany