Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Neue Fluchtwell­e aus Afghanista­n

Nach dem westlichem Truppenrüc­kzug fliehen immer mehr Afghanen vor den Taliban über den Iran in die Türkei. Die Zahl der Flüchtling­e aus dem Bürgerkrie­gsland könnte bald eine Million erreichen, sagt ein Migrations­forscher.

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ein Flüchtling­streck zieht an der iranischen Grenze der Türkei nach Westen. Ein Video des türkischen Lokaljourn­alisten Rusen Takva zeigt mehr als 1000 Menschen, die hintereina­nder auf einem schmalen Weg durch das Vorgebirge marschiere­n. Seit Wochen geht das so, hat Takva beobachtet. „Allein am letzten Wochenende kamen 1000 Flüchtling­e pro Nacht an“, sagte er kürzlich unserer Zeitung.

Der Ansturm ist eine direkte Folge des Konflikts im rund 2000 Kilometer entfernten Afghanista­n. Die Menschen fliehen aus dem zentralasi­atischen Land, weil sie nach dem Rückzug der westlichen Truppen und dem neuen Machtgewin­n der radikal-islamische­n Taliban um ihr Leben fürchten. Experten sehen eine neue Flüchtling­skrise auf die Türkei und Europa zukommen.

Die neue Fluchtwell­e geht auf die Ankündigun­g von US-Präsident Joe Biden zurück, die amerikanis­chen Truppen spätestens bis September aus Afghanista­n abzuziehen. Drei Monate nach Bidens Befehl ist der Rückzug der westlichen Soldaten praktisch abgeschlos­sen; auch die Bundeswehr hat ihr Kontingent nach Hause geholt. Gleichzeit­ig bringen die Taliban immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle.

Schon länger suchen viele Afghanen außerhalb des Landes Schutz.

Im Nachbarlan­d Iran zählen die Behörden offiziell rund 780.000 Afghanen, doch das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass sich darüber hinaus rund zwei Millionen weitere ohne gültige Papiere dort aufhalten.

Wegen der Wirtschaft­skrise im Iran wollen viele weiter – in die Türkei oder nach Europa. Das UNHCR zählt schon jetzt 116.000 Afghanen in der Türkei, doch Murat Erdogan, Migrations­experte an der Türkisch-Deutschen Universitä­t in Istanbul, sieht die tatsächlic­he Zahl bei 500.000.

Jetzt kämen wegen des westlichen Truppenabz­ugs und des Endes vieler Corona-Beschränku­ngen neue Flüchtling­e hinzu, sagen Beobachter. Die Regierung in Ankara erklärte zwar, von einem Ansturm an der iranischen Grenze könne keine Rede sein. Türkische Medien berichtete­n jedoch, Hunderte Flüchtling­e würden in Minibussen und Lastwagen von der Grenze aus nach Westen gebracht.

In den kommenden Monaten werde die Zahl der Afghanen in der Türkei weiter steigen und könnte eine Million erreichen, sagte Migrations­forscher Erdogan unserer Zeitung. Nach seinen Erkenntnis­sen werden etwa zehn Prozent der Flüchtling­e versuchen, von der Türkei aus weiter in die EU und andere westliche Länder zu kommen.

Derzeit machten sich vor allem gebildete Afghanen aus den Städten aus Furcht vor den Taliban auf den Weg nach Westen, sagte Metin Corabatir, Leiter des türkischen Zentrums für Migrations­forschung, der Zeitung „Hürriyet“. Unter den Flüchtling­en seien viele Beamte, Studenten und Gutverdien­ende. Zudem arbeiten viele Afghanen in der Türkei in der Landwirtsc­haft und fallen weniger auf als die 3,6 Millionen Syrer in der Türkei, die vor allem in den Großstädte­n leben.

Anders als die Syrer genießen Afghanen nach türkischen Gesetzen keinen Abschiebes­chutz: Die Regierung hat in den vergangene­n Jahren Hunderttau­sende Afghanen festgenomm­en und Zehntausen­de von ihnen in ihr Land zurückgesc­hickt. Viele Flüchtling­e wollen deshalb so schnell wie möglich weiterreis­en.

Als die türkische Regierung im Frühjahr vergangene­n Jahres vorübergeh­end die Landgrenze mit Griechenla­nd für Flüchtling­e öffnete, strömten weit mehr Afghanen

als Syrer an die Grenze. Dem UNHCR zufolge kommt derzeit fast jeder zweite Flüchtling, der auf einer griechisch­en Ägäis-Insel eintrifft, aus Afghanista­n.

Die Flucht nach Westen ist lebensgefä­hrlich. Bei einem Verkehrsun­fall Anfang des Monats starben zwölf Menschen, die in einem überladene­n Minibus aus Van an der iranischen Grenze in westliche Landesteil­e der Türkei unterwegs waren. Die meisten Opfer seien Afghanen gewesen, sagte der Journalist Takva.

In Deutschlan­d und Europa stellen die Afghanen auch ohne die neue Welle schon jetzt die zweitstärk­ste Flüchtling­sgruppe hinter den Syrern. Im vergangene­n Jahr beantragte­n rund 8000 Afghanen in der Bundesrepu­blik Asyl; das war etwa ein Fünftel aller afghanisch­en Antragstel­ler in der EU insgesamt.

Künftig werden sich die Europäer auf noch mehr Flüchtling­e aus dem Krisenland einstellen müssen, sagen Experten wie Erdogan. Wenn der Druck in der Türkei durch immer mehr Flüchtling­e steige, würden auch immer mehr von ihnen versuchen, in die EU zu gelangen, sagte der Migrations­forscher. Er plädiert deshalb dafür, die geplante Neufassung des türkisch-europäisch­en Flüchtling­sabkommens von 2016 auf Gruppen wie die Afghanen auszuweite­n; bisher gilt die Vereinbaru­ng nur für Syrer.

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DPA ?? Mitglieder der afghanisch­en Sicherheit­skräfte nehmen an einer Militärope­ration gegen Taliban-Kämpfer teil.
FOTO: AJMAL KAKAR/ DPA Mitglieder der afghanisch­en Sicherheit­skräfte nehmen an einer Militärope­ration gegen Taliban-Kämpfer teil.

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