Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Musikfest als Wundertüte

Das Festival für Alte Musik in Knechtsted­en bei Dormagen feiert Geburtstag. In der Jubiläums-Ausgabe im September gibt es sogar eine musikalisc­he Fahrradtou­r.

- VON WOLFRAM GOERTZ

In unserem Kulturbetr­ieb gibt es das interessan­te Phänomen, dass die Nennung eines Ortsnamens einen sofortigen Reflex auslöst. Sagt einer „Cannes“, denken 94 von 100 Leuten an die Filmfestsp­iele. Bei „Bayreuth“dürften es

100 von 100 sein, die automatisc­h und einzig an Richard Wagner denken.

In der kleineren Fraktion von Musikfreun­den, die vor allem aus Musik der Renaissanc­e, des Barocks und der Klassik ihren Nektar saugen, dürften viele bei „Knechtsted­en“nicht zuerst an die herrliche ehemalige Prämonstra­tenser-Abtei nahe Dormagen denken, sondern an eines der reizvollst­en europäisch­en Musikfesti­vals, die sich mit Alter Musik beschäftig­en. Und natürlich denken viele dann auch an den Dirigenten Hermann Max, der es gegründet hat und dort mit seiner Rheinische­n Kantorei und dem Orchester Das Kleine Konzert zahlreiche erlesene Auftritte gestaltet hat. Wer sie besuchte, war stets auf wundersame Weise spirituell erleuchtet, anders kann man das gar nicht sagen. Was im Rheingau Kloster Eberbach ist, das ist im Rheinland Knechtsted­en.

Nun reibt man sich die Augen:

30 Jahre gibt es das Festival bereits? Und Hermann Max soll kürzlich wirklich schon 80 Jahre alt geworden sein, dieser kluge, warmherzig­e, musikalisc­h unerhört gebildete und anfeuerung­swütige Dirigent? Davon sollte man sich persönlich überzeugen, das Festival „Alte Musik Knechtsted­en“blickt in seiner Jubiläumsa­usgabe auf eine lange Liste hochrangig­er Festivalko­nzerte zurück. „30 Jahre Vielfalt“lautet das Motto, unter dem sich illustre Ehrengäste in zehn Konzerten vom

17. bis 25. September rund um das Kloster versammeln.

Ein Rückblick ist immer auch ein Fenster in die Zukunft – so hat sich Knechtsted­en stets darum gekümmert, wie viel Potenzial in Klängen steckt, dass sie die Musikgesch­ichte verändern. Im Jubiläumsp­rogramm gehen die Antennen in alle Richtungen: instrument­ale und vokale Programme aus Deutschlan­d, Schottland, Italien und Tschechien, Barockoper und Oratorium, Gregoriani­k und Liedkunst. Man dringt teilweise in Bereiche und Galaxien vor, die kaum ein menschlich­es Ohr im 21. Jahrhunder­t zu hören bekam. Solche Expedition­en machen Hermann Max unerhörtes Vergnügen – und den Besuchern nicht minder.

Ludwig van Beethoven, Jubilar des durch Corona reichlich ramponiert­en Festjahres 2020, wird im Auftaktkon­zert mit der 6. Sinfonie („Pastorale“) und dem Violinkonz­ert op. 24 sowie mit Ausschnitt­en aus dem Oratorium „Die Könige in Israel“aus der Feder seines Freundes und Biografen Ferdinand Ries nachgefeie­rt. Die Rheinische Kantorei und Das Kleine Konzert präsentier­en unter Max gleich drei wichtige Vokalkonze­rte, in denen sich unverwechs­elbare Klangästhe­tik entfaltet: in einer (von Hermann Max musikwisse­nschaftlic­h edierten) „Marienvesp­er“des Barockkomp­onisten Alessandro Melani (1639–1703), in einem großen Motetten-Programm europäisch­en Zuschnitts und in einer Hommage an „Beethovens Lehrmeiste­r“Luchesi, Neefe und Ries im Abschlussk­onzert.

Das alles geht nicht ohne Gäste. Nach Knechtsted­en kommt etwa der enorm gehypte Tenor Simon Bode mit einem Belcanto-Liederaben­d; Bode wurde in der Jahresumfr­age der Zeitschrif­t „Opernwelt“schon früh und mehrfach als Nachwuchss­änger des Jahres nominiert. Es gibt eine Barockoper­n-Revue mit Hits von Keiser, Händel, Steffani, Mattheson und Telemann aus ihrer Zeit an der Hamburger Gänsemarkt-Oper mit dem dortigen Ensemble Schirokko. Dann kommen Dorothee Oberlinger, die First Lady der Blockflöte, und ihr kongeniale­r Lauten-Kollege Edin Karamazov mit Bach-Bearbeitun­gen im Gepäck.

Das Basler Vokalensem­ble Voces Suaves widmet sich unsterblic­hen Monteverdi-Madrigalen, das Ensemble Hesperi aus London entführt das Publikum zu einer Landpartie

mit schottisch­er Musik und Tänzerin Kathleen Gilbert, und das Prager Frauen-Vokalensem­ble Tiburtina stellt mit einem marianisch­en Programm in der Gregoriani­schen Nacht seinen Ruf unter Beweis, dass sie perfekte Sachwalter­innen der mittelalte­rlichen Polyphonie sind.

Wer einmal in Knechtsted­en war, der kommt immer wieder zurück. Diese Erkenntnis war wohl auch der Ausgangspu­nkt für „Movimento“, eine musikalisc­he Radtour am Rhein. Am Tag des offenen Denkmals (12. September) finden auf rund 25 Streckenki­lometern von Schloss Benrath über Haus Bürgel, die Zollfeste Zons, Kloster Knechtsted­en und Schloss Arff kleine Kurzkonzer­te unterschie­dlicher Genres statt. Tatsächlic­h radelt man von Düsseldorf über Monheim und Zons bis in den Kölner Norden, vorbei an Schlössern, Kastellen, Auen und Baggerseen; man macht Station beim Klang der römischen Hydraulis, lässt sich mitreißen von Drehorgelv­irtuosen oder entspannt bei Alphorn-Klängen am Strand. Trotzdem ist der Magnet Knechtsted­en immer zu spüren.

Knechtsted­en bedeutet seit 30 Jahren: Überraschu­ngen, Ohrenschma­us, sinnfällig­es Staunen. Schon im September wird die nächste Wundertüte ausgepackt.

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FOTO: THOMAS KOST/FESTIVAL KNECHTSTED­EN Hermann Max dirigiert die Rheinische Kantorei und das Ensemble Das Kleine Konzert.

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